lemmi hat geschrieben: ↑Mittwoch 12. Januar 2022, 16:34
Kuhn sagt (grob zusammengefasst) dass Wissenschaft immer wieder ein neues Forschungsprogramm aufstellt, das dann solange erfolgreich verfolgt wird ("Normalwissenschaft") bis sich Befunde ergeben, die schwierig oder gar nicht mehr mit den alten Begriffen zu erklären sind. Dann tritt eine "Revolution" ein, in der sich ein neues "Paradigma", eine neue Sicht auf das Problem durchsetzt und ein neues Forschungsprogramm aufgestellt wird - das dann wieder in eine Phase von "Normalwissenschaft" mündet."
danke für diese Definition, das klärt einiges. Umgangssprachlich sind Begriffe wie "Revolution" oder "Normal" durchaus wertend konnotiert. In dem Sinne bedeutet der "Fachbegriff" Normalwissenschaft jedoch nur, dass man innerhalb des bestehenden Axiomengebäudes neue, wahre Sätze erzeugt oder neue, nicht in Widerspruch mit den bestehenden stehende Axiome hinzufügt oder Hypothesen/Sätze anhand des bestehenden Axiomengebäudes verifiziert/falsifiziert. Revolution ist dann das Hinzufügen neuer Axiome die in Widerspruch mit bestehenden sind, der nur gelöst werden kann indem bestehende Axiome verworfen werden.
In dem Sinne kann man durchaus hinterfragen wie das einzuordnen ist:
Damals war das kein "kleiner Teilaspekt" sondern eine fundamentale Frage und die Koordinationslehre eine bahnbrechende Therorie, die vieles danach überhaupt erst ermöglicht hat. Gerade dass man damals noch nicht wusste, dass es Elektronen gibt und wie Bindungen beschaffen sind, macht es für mich bewundernswert, dass eine richtige Idee abgeleitet wurde und zwar gegen die bis dato vorherrschende wissenschaftliche Sichtweise
denn vereinfacht betrachtet hat er aus:
in dem das Co brav 3-wertig ist und der N ein bisschen "flexibler" eingesetzt wurde nur ein [Co(NH
3)
6]Cl
3 gemacht in dem das Co auf einmal 6-wertig sein musste. Und nebenbei ergibt das eine hübsche, platonische Oktaeder-Geometrie. Natürlich passte das dann alles besser zu den Befunden von wegen Leitfähigkeit und Stereoisomere, also war es nicht nur eine beliebige Variante sondern der (bis auf weiteres
) richtige Erklärungsansatz.
Aber welches große Axiom wurde damit über Bord geworfen sodass das in die Kategorie "Revolution" einzuordnen ist? Tausche 5-wertigen N gegen 6-wertiges Co? Mit Valenzen und Bindungen war man ja generell recht freigiebig, etwas wie
war durchaus salonfähig auch wenn es uns heute beim Anblick schaudert. Die organische war ebenso reich an kreativen Strukturformeln, wer bekam dort den Revoluzzer-Nobelpreis fürs aufräumen?
Axiome wie Welle-Teilchen Dualismus, von Masse gekrümmte Raumzeit, die Lichtgeschwindigkeit als das Maximum aller Dinge, der Zusammenhang zwischen Masse und Energie - DAS sind unbestrittene Revolutionen die einige fundamentale alte Axiome ausgehebelt haben. Von mir aus auch Schalen statt Rosinenkuchen, Orbitale statt Schalen... Im Fall der Komplexchemie sehe ich das von der "Größe her" ein bisschen nüchterner, aber das ist wohl individuelle Geschmacksfrage
Planck hat sein Wirkungsquantum auch aus purer geistiger Kreativität und empirischer Notwendigkeit eingeführt. Dass es einmal so eine zentrale Stellung im Theoriegebäude der Physik einnehmen würde, hat er selbst nie gedacht.
Auch das ist nichts ungewöhnliches... Schrödinger soll einfach nur von der Mathematik der Wellengleichungen besessen gewesen sein. Dass er damit ein fundamentales Problem der Physik löste, ist ihm eher so "passiert". Andere haben das im Sinne der Physik interpretiert.
Oft genug ist die Situation wohl eher so:
und welches Korn da gefunden wird können andere erst richtig einordnen
Dennoch würde ich grundsätzlich eher mit Edison gehen:
“Genius is one percent inspiration and 99 percent perspiration”.
Deswegen meine Frage danach, wo ihr ein Potential für eine ähnliche Strukturrevolution vermutet (Ich, wie gesagt, würde es sehr befriedigend finden, wenn es eine andere Erklärung für den Aufbau der Atome gäbe als unser derzeitiger "Teilchenzoo", wo man immer noch ein neues Teilchen postulieren musste, um das Verhalten der bisherigen zu erklären).
ja, der Teilchenzoo im subatomaren ist definitiv ein Kandidat wo mal aufgeräumt werden muss (ich verstehe sowieso nicht warum immer alle von "Teilchen" sprechen - was ist mit der Erkenntnis dass Teilchen und Wellen das gleiche sind?). Ebenso im ganz großen Kosmos - da gibt es schon viel zu viel dunkle Materie und Energie als dass das noch lange halten könnte. Und die Große vereinheitlichte Theorie der Kräfte (Grand Unified Theory, GUT) muss noch gefunden werden. Und wie die Pyramiden gebaut werden konnten
GUT finde ich insofern sehr bezeichnend als es einem gewissen Trend folgt, dass neue Theorien oft die alten als Spezialfälle beinhalten, sie also nicht mal ganz von Thron gestoßen werden müssen (nur wenn sie wirklich eine falsche Sackgasse waren). Wir arbeiten also auf ein "Big Picture" hin.
Letztendlich ist es wohl auch eine Frage der kontinuierlichen Entwicklung (Evolution) der gesamten Wissenschaft wie oft es überhaupt noch zu Revolutionen kommt. So wie beim Crypto-Mining die Wahrscheinlichkeit immer weiter abnimmt noch neue Bitcoins zu erzeugen, so nimmt auch in der Wissenschaft die Chance immer weiter ab, noch etwas fundamental neues zu finden oder ein dann schon jahrhundertelang bewährtes Axiom nochmal über Bord werfen zu müssen. Irgendwann nähern wir uns einfach dem Erkenntnisstand 100% (asymptotisch) an.
Deine Kritik, wissenschaftliche Ideen würden sich in einer Art "survival of the fittest" durchsetzen, wurde auch Kuhn schon entgegengehalten. Sie ist nur bedingt richtig. [...] Und übrigens (im Gegensatz zur Naturgeschichte), purster "Kreationismus" - was gib es kreativeres als die geistigen Schöpfungen (hier: wissenschaftliche Theorien) des Menschen?!
von "survival of the fittest" habe ich nicht gesprochen, wenngleich das gerade in der Wissenschaft mit dem Prinzip der ständigen Falsifizierung ganz besonders zutreffend ist. Ebensowenig davon, dass das schon seit Anbeginn der Menscheit so war (wenngleich mit wechselnder Geschwindigkeit durchaus - wir zehren heute immer noch von der Erkenntnis der Nutzung des Feuers wenngleich wir gerade dabei sind es endgültig durch Strom zu ersetzen!)
"Evolution" bezog sich darauf, dass alles immer ein (mehr oder weniger großes) Ergänzen und Modifizieren eines großen Gesamt-Erkenntnisstands ist. So wie nicht eines Tages ein Fisch an Land sprang und beschloss zu atmen, so wie jeder auf den Schultern seiner Vorgänger steht. Jede "kreative" Schöpfung ist in dem Sinne wieder eine kleinere oder größere Mutation im Gebäude die den Kräften der Falsifizierung ausgesetzt ist
Das Bessere ist der Feind des Guten...