David Wooton: The Invention of Science

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lemmi
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David Wooton: The Invention of Science

Beitrag von lemmi »

The Invention of Science - a new history of the scientific revolution

Die Wissenschaften – alle Wissenschaften, obgleich im Folgenden unter dem Kürzel “Wissenschaften“ die Naturwissenschaften gemeint sind – sind die Ergebnisse menschlichen Handelns. Sie sind Konstrukte, aber kann man von ihnen sagen, dass sie “erfunden“ wurden? Waren sie nicht vielmehr immer schon da gewesen, im Streben der Menschen, die Natur zu verstehen, ihre Zusammenhänge zu ergründen und nutzbar zu machen? Es gibt Historiker, die diesen Standpunkt vertreten. Nach ihrer Darstellung führt eine gerade Linie von den altbabylonischen Astronomen über die Griechen und Römer (mit einer bedauernswerten Unterbrechung im finsteren Mittelalter) zur Renaissance und der Neuzeit mit ihrer zunehmenden Differenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen.

David Wooton (* 1952), Historiker der Universität York, vertritt eine andere These. Unsere heutigen Naturwissenschaften sind nur rund 400 Jahre alt und etwas Vergleichbares hat es zuvor nicht gegeben, auch wenn das Wort scientia über 2500 Jahre alt ist. Im Verlaufe des 17. Jahrhunderts kam es zu einem Prozess, der mit Fug und Recht als “Die wissenschaftliche Revolution“ bezeichnet werden kann, und der in seiner Bedeutung für die Menschheit nur mit der Neolithischen Revolution (etwa 5.000 – 10.000 v. Chr.) verglichen werden kann, als die Menschen ihr Jäger- und Sammlerdasein aufgaben, sesshaft wurden, Haustiere domestizierten und begannen Ackerbau zu treiben. Um seine These zu untermauern vergleicht Wooton die Situation eines gebildeten Bürgers zu zwei verschiedenen Zeitpunkten:

… let us take for a moment a typical well-educated European in 1600 … He believes in witchcraft … He believes witches can summon up stormes that sink ships at sea … He believes in werewolfes … He believes Circe did really turn Odysseus’s crew into pigs. He believes mice are spontaneuosly generated in piles of straw. … He has seen a unicorn’s horn, but not a unciorn. He believes that a murdered body will bleed in the presence of the murderer. He believes that there is an ointment which, if rubbed on a dagger that has caused a wound, will cure the wound. He believes that it is possible to turn base metals into gold, altough he doubts that anyone knows how to do it. He believes that nature abhors a vacuum. He believes the rainbow is a sign from god and that comets portend evil. … He believes of course, that the earth stands still and the sun and stars turn around the earth once every twenty-four hours – he has heard mention of Copernicus but he does not imagine that he intended his sun-centered model oft he cosmos to be taken literally. … He owns a couple of dozen books.

But now let us jump far ahead. Let us take an educated Englishman a century and a quarter later, in 1733 … Our Englishman has looked through a telescope and a microscope, he owns a pendulum clock and a stick barometer – and he knows there is a vacuum in the end of the tube. He does not know anyone (or at least not anyone educated and reasonably sophisticated) who believes in witches, werewolfs, magic, alchemy or astrology; he thinks, the Odyssey is fiction, not fact. He is confident that the unicorn is a mythical beast. … He believes that no creature large enough to be seen with the naked eye is generated spontaneously – not even a fly. He does not believe in the weapon salve or that murdered bodies bleed in the presence oft he murderer. Like all educated peoples in protestant countries hie believes that the earth goes round the sun. He knows that the rainbow is produced by refrachted light and that comets have no significance for our live on earth. … He has seen a steam engine at work. He believes that science is going to transform the world and that the moderns have outstripped the ancients in every possible respect … He owns a cople of hundred – perhaps even a couple of thousand – books.


In dieser Zeitspanne, grob gesagt im 17. Jahrhundert, muss etwas passiert sein, was unsere Sicht auf die Welt und unser Verständnis der Natur grundlegend verändert hat. Dieser unerhörte Wandel in der Geistesgeschichte und die ihn teils auslösenden, teils aus ihm folgenden historischen Ereignisse sind Gegenstand von Wootons Untersuchung.
Natürlich lässt sich ein konkreter Beginn der wissenschaftlichen Revolution nicht angeben, schon gar nicht eine singuläre Ursache. Aber es gibt ein paar Ereignisse, die ihn markieren, so wie der Schuss von Sarajevo nicht die Ursache des ersten Weltkrieges war, aber seinen Beginn markiert. Da ist zum einen die Supernova, die der dänische Astronom Tycho Brahe im Jahre 1572 beobachtete. Sie widersprach der aristotelisch-ptolemäischen Lehre, dass der Himmel jenseits der Mondbahn in perfekter Harmonie gestaltet, ewig und unveränderlich war. Brahe wies durch trigonometrische Messungen nach, dass der neue Stern (Nova) sich außerhalb der “Mondspäre“ befinden musste. Die Nova erregte nicht nur Aufsehen bei den Astronomen sondern war auch der Anlass für das erste wirkliche Forschungsprogramm der europäischen Geschichte: der dänische König finanzierte Brahe ein mit den besten Instrumenten - das Teleskop war noch nicht erfunden! – ausgestattetes Observatorium, um den Lauf der Gestirne vermessen zu können. „Messung“ und “Genauigkeit“ wurden zum ersten Mal Programm. Auf Brahes Daten baute Kepler später seine berühmten Gesetze der Planetenbewegungen auf.

Ein zweites einschneidendes Ereignis waren die Entdeckungen, die Galileo Galilei mit Hilfe des Fernrohres machte: 1609 erkannte er, dass der Mond Berge aufwies, 1610 fand er die Jupitermonde und beobachtete Sonnenflecken und 1611 entdeckte er, das der Plante Venus Phasen hatte wie der irdische Mond. Seine Entdeckungen publizierte er 1611. Sie waren revolutionär und Galileo wusste das. Nach der klassischen Philosophie mussten die Himmelskörper perfekt glatt und rund sein und waren an kristallenen Sphären befestigt, die sich um die Erde drehten. Galileos Beobachtungen machten diese Idee vom Aufbau der Welt unhaltbar.

Aber war da nicht schon was gewesen? Hatte nicht Nicolas Kopernikus 1543 sein heliozentrisches Weltbild veröffentlicht? Das war in der Tat so gewesen, doch seine Thesen hatten in der akademischen Welt wenig Widerhall gefunden. Und das nicht etwa, weil sie gewaltsam unterdrückt worden wären. Die Astronomen hatten einfach keinen plausiblen Grund das kopernikanische System dem ptolemäischen vorzuziehen. Beide erklärten die beobachteten Phänomene. Bis zu Galileos Entdeckungen. Die “kopernikanische Wende“ trat mit einer Verspätung von hundert Jahren ein.

Wotton tritt einen Schritt hinter diese historischen Ereignisse zurück uns stellt die These auf, dass an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert nicht einfach nur neue Phänomene entdeckt wurden. Es wurden auch neue Konzepte geschaffen. Zwei dieser revolutionären neuen Ideen waren die der Entdeckung und des Fortschritts. Es ist für und heute unvorstellbar, dass die Menschheit über Jahrtausende ohne diese Begriffe gelebt haben soll, aber Wootons Beweisführung, die er mit zahlreichen Zitaten und historischen Ereignissen belegt, ist überzeugend. Das klassische Altertum und das Mittelalter kannte die Idee der Entdeckung nicht und folglich gab es auch keine Vorstellung von Fortschritt im Wissen. Ziel der Gelehrten und ihrer Studenten war, aus den Schriften der Philosophen, durch logisches Schließen und Deduktion Wissen über die Welt zu erlangen. Das auslösende Ereignis, das Idee der Entdeckung in Europa aufkommen ließ, war die Entdeckung Amerikas 1492. Die Existenz eines Kontinentes im Westen, der nicht Asien war, war unzweifelhaft eine der Antike unbekannte Tatsache, die bewies, daß dinge entdeckt werden konnten, die Aristoteles unbekannt gewesen waren.

Auch diese Entdeckung hatte epistemologische und kulturelle Folgen. Sie wies nämlich die Existenz von Antipoden nach und widersprach der klassischen Lehrmeinung, dass die äquatornahmen Erdteile unbewohnbar sein müssten. Im Gegensatz zu einer landläufigen Anschauung waren die Gelehrten des Mittelalters nicht der Ansicht, die Erde sei eine Scheibe. Sie sahen die Erde vielmehr als Kugel, die zum größten Teil aus Waser bestehe, auf dem das trockene Land obenauf schwamm, wie eine Kugel aus Holz in einem Eimer voll Wasser. Das ging auf die Lehre von Aristoteles zurück, der den Aufbau der Welt durch die vier Elemente - Feuer, Luft, Wasser und Erde – in konzentrischen Schalen von außen nach innen in dieser Reihenfolge gelehrt hatte, weil diese der Schwere der Elemente entsprach (die Erde ist am schwersten, das Feuer am leichtesten). Kulturell bedeutete das Konzept der “Entdeckung“ den Beginn von Prioritätsansprüchen und eine Konkurrenz der Wissenschaftler untereinander. Es begann ein (bis heute anhaltender) Wettlauf um Entdeckungen und Fortschritt und dieser war nur möglich, weil ein neues Kommunikationsmedium die Voraussetzung geschaffen hatte, eine Entdeckung zu publizieren – nämlich die Druckerpresse.

In der Folge kam ein entscheidender Prozess in Gang: die Mathematiker rebellierten erfolgreich gegen die Philosophen und Theologen, die quantitative Betrachtung der Naturprozesse begann sich gegenüber der qualitativen durchzusetzen. Alle wichtigen Wissenschaftler der frühen Neuzeit waren von ihrer Ausbildung Mathematiker: Galileo, Kepler, Pascal, Huygens, Boyle und natürlich Newton.

Die “neue Philosophie“ brachte einen neuen Blickwinkel auf die Naturphänomene und eine neue Methodologie mit sich, die auch einer neuen Sprache bedurfte. Überhaupt ist die Sprachanalyse in der Wissenschaftsgeschichte von großer Bedeutung. Wann welche Worte zum ersten Mal auftauchen und welche Bedeutung sie haben sagt viel über den geistesgeschichtlichen Zustand einer Epoche aus. Wir hatten dies am Beispiel des Begriffes “Wissenschaft“ gesehen. Wooton zeichnet die Verbreitung des Wortes “Entdeckung“ in Europa nach, von seiner ersten Verwendung im Portugiesischen 1551 bis es 1613 endlich auch in die Deutsche Sprache übernommen wurde (überhaupt fand die wissenschaftliche Revolution im deutschen Kulturraum mit fast 100 Jahren Verzögerung statt). Zwei weitere wichtige Konzepte sind die der “Tatsache“, engl. fact, und der evidence, was man wohl am besten mit “Beweis(führung)“ übersetzt. Beide sind eng verknüpft mit dem Aufkommen der experimentellen Methode. Wooton betont, dass wir in der Wissenschaftsgeschichte dazu tendieren, die Erfindung von Messinstrumenten (das Teleskop, das Mikroskop, die Pendeluhr, das Barometer) überzubewerten. Mindestens genauso entscheidend ist die Entwicklung neuer intellektueller Instrumente. Ohne die Ideen des Faktums, von Naturgesetzen und Wahrscheinlichkeit, ohne ein Konzept dessen was Hypothesen und Theorien sind, gibt es keine Naturwissenschaft in unserem modernen Sinne und genau diese Konzepte unterscheiden sie von der Wissenschaft des Altertums und bis zur Renaissance.

Unsre Naturwissenschaften basieren wie selbstverständlich auf Fakten. Aber Fakten gibt es erst seit dem 17 Jahrhundert. Diese provozierende Behauptung bedeutet natürlich nicht, dass die Gegenstände, auf die sich die Aussagen beziehen, nicht schon vorher da waren. Nur sind Fakten und Gegenstände nicht dasselbe. Der Mount Everest existiert seit Jahrmillionen, hat eine bestimmte Höhe und sein Gipfel ist mit Schnee bedeckt. Aber der Mount Everest erhielt seinen Namen 1865 durch einen offiziellen Akt der Royal Geographical Society und er war 1855 im Auftrag der Kolonialverwaltung von Britisch-Indien vermessen worden. Wenn wir heute von dem Faktum sprechen, dass im Himalaya ein Berg existiert, der Mount Everest heißt, 8848 m hoch ist und einen schneebedeckten Gipfel hat, so wurde dieses Fakt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert. Fakten sind nicht vorgegeben. Sie sind das Ergebnis eines Prozesses, der Phänomene, Methoden (Messungen, Terminologie) und Konventionen beinhaltet.

Wie “etabliert“ man ein Faktum möglichst zweifelsfrei? Am besten dadurch, dass man die dazu notwendigen Beobachtungen wiederholt. Unter anderem dazu tragen Experimente bei. Experimente müssen, damit die auf ihnen basierten Fakten-Aussagen glaubhaft sind, wiederholbar sein. Auch dieses methodologische Konzept ist ein Kind der wissenschaftlichen Revolution. Das Altertum unterschied streng zwischen “Natur“, dem vorgegebenen, und “Kunst“, dem vom Menschen gemachten. Experimente waren dieser Denkweise fremd, denn jeder Eingriff des Menschen in Naturvorgänge würde diese zwangsweise ihrer “Natürlichkeit“ berauben und man erhielte nur eine Aussage über eine “künstlich“ hergestellte Situation. Dieser Denkweise zufolge können wahre Erkenntnisse nur logisch-deduktiv gewonnen werden, die Begündung der Erkenntnis auf Erfahrung (das Wort “Experiment“ kommt von experientia, Erfahrung) war nicht statthaft. Infolgedessen wurde in der klassischen Naturphilosophie nicht experimentiert. Die ersten systematischen Experimente waren Galileos Versuche zum freien Fall, die Pendelgesetze (Huygens) und die Versuche zum Luftdruck mit Hilfe des 1643 von Torricelli erfundenen Quecksilberbarometers. Aber Experimente allein genügen nicht um wissenschaftliche Fakten zu etablieren und Fortschritte zu erzielen. Essentiell ist die Existenz einer kritischen wissenschaftlichen Öffentlichkeit, die experimentell gewonnene Ergebnisse auf den Prüfstand stellt. Das schlagende Beispiel hierfür ist die Alchemie. Die Alchemisten hatten jahrhundertelang experimentiert. Aber obwohl niemand in der Lage war, den Stein der Weisen aufzufinden, hielten sie - entgegen aller Erfahrung - hartnäckig an der Idee fest, er müsse existieren. Der Glaube an die Autoritäten, in deren Schriften festgehalten war, dass der lapis philosophorum existieren musste, war entscheidend. Misserfolge führten nicht zum Zweifel am Ziel der Bemühungen, sondern an den Fähigkeiten des Adepten. Die Alchemie ging unter, als von wissenschaftlichen Fakten erwartet wurde, dass sie in klarer Sprache beschrieben und für jeden reproduzierbar sein mussten. Wieder spielte die Möglichkeit, Experimentalergebnisse in gedruckter Form einer breiten wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, eine entscheidende Rolle.

Wooton beleuchtet die direkten kulturellen Folgen dieser geistigen Umwälzungen. Eine historisch interessante Frage ist, wie die Konstruktion von Maschinen und die folgende industrielle Revolution, exemplifiziert in der Konstruktion der ersten Kraftmaschine, der Dampfmaschine (Newcomen 1712 und Watt 1765) mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften zusammenhängen. Wooton beschreibt, dass auch diese Entwicklung nicht geradlinig, sondern wechselseitig verlief. Maschinen und technisches, handwerkliches Geschick waren eine Voraussetzung der wissenschaftlichen Revolution und zwar sowohl praktisch als auch konzeptuell. Dass man die Bewegungen der Planten mit Hilfe von Uhrwerken simulieren konnte, stützte die Sicht, dass die Naturprozesse mechanische, ohne Intention ablaufende, Geschehnisse waren. Das führte natürlich zu einem Konflikt mit dem (christlichen) Glauben, nachdem sich natürliche Ereignisse zunehmend mathematisch erfassen und in Gesetzen formulieren ließen. Zahlreiche Naturwissenschaftler (Newton, Pascal) waren einerseits tief religiös, konnten sich aber der behaupteten Existenz von Hexerei, Wundern, Geistern und anderer übernatürlicher Phänomene nicht anschließen. Die Argumente wandelten sich. Waren Gott und seine Engel im früheren Weltbild diejenigen, die die Kristallsphären des Universums in Bewegung hielten argumentierten die neuzeitlichen Wissenschaftler nun, dass die Existenz von Naturgesetzen und die Fernwirkung der Gravitation der beste Beweis für die Existenz Gottes seien, denn etwas so harmonisch und perfekt Konstruiertes musste auf die Existenz eines Schöpfers verweisen (ein Argument, das heute noch von radikal-evangelikalen Kreisen vertreten wird) . Descartes versuchte, das Problem durch eine Trennung von Materiellem und Geistigem zu lösen – womit er den Materialisten Munition lieferte, da diese das Geistige anhand fehlender empirischer Belege einfach als irrelevant verwerfen konnten (und das bis heute nachwirkende Leib-Seele Problem in die Welt setzte).

Uhrwerke waren auch praktisch für die Naturwissenschaften von Bedeutung, denn die technischen Fähigkeiten der Uhrmacher waren die Grundlage für die Konstruktion von Messinstrumenten aller Art. Umgekehrt wirkte die experimentelle Methode auf die Technik zurück. Im Jahre 1760 publizierte John Smeaton seine systematischen Experimente zur Effizienz von Wasserrädern und wies (übrigens entgegen seiner Erwartung!) nach, dass oberschlächtige Wasserräder mehr Leistung entwickeln, als unterschlächtige. Dazu musste er mit Modellen arbeiten können (was Galileo begonnen hatte), Torricellis Druckkonzept kennen und eine Idee von der Erhaltung der Energie haben (die Newton formuliert hatte). Die Entwicklung der Dampfmaschine war eine Anwendung der Erkenntnisse über den Luftdruck zusammen mit mechanischer Ingenieurskunst (das Wort “Ingenieur“ kommt wie das englische engine = Maschine vom lateinischen ingenium = Intelligenz, Vorstellungskraft) und benötigte von ersten Ideen um 1650 über Denis Papin (1695) bis zur ersten kommerziell erhältlichen Dampfmaschine 1712 (Newcomen) rund 60 Jahre. Aus seinen Untersuchungen zur Funktionsweise der Dampfmaschine wiederum entwickelte Sadi Carnot 1824 die Grundlagen der Thermodynamik.

Die letzten drei Kapitel von Wootons Buch beschäftigen sich mit historiographischen Methoden und erkenntnistheoretischen Fragen. Im ersten wendet er sich gegen eine Position, die er als historischen Relativismus bezeichnet und die fordert, die verschiedenen Formen der Naturerklärung mit dem gleichen Maß zu messen und als Ausdruck einer spezifischen kulturellen und sozialen Situation zu betrachten. In diesem Sinne gäbe es keinen qualitativen Unterschied zwischen Magie, Alchemie und Astrologie einerseits und Physik, Chemie und Astronomie andererseits, außer der Tatsache, dass in unserer aktuellen Kultur die letzteren die Vorherrschaft errungen haben. Die Geschichte der Wissenschaft wird so im Wesentlichen zu einer Geschichte der Durchsetzungskraft bestimmter Denkrichtungen, die sozial determiniert ist. Wooton hält dem entgegen, dass nicht soziale Veränderungen, sondern neue Entdeckungen die auslösenden Ereignisse der wissenschaftlichen Revolution waren. Ebenfalls verteidigt er sich gegen den Vorwurf Whig history zu betreiben. Darunter versteht man eine Betrachtungsweise, welche Geschichte als beständigen Fortschritt zum Besseren und die Gegenwart als Krönung der Vergangenheit ansieht. Die Kritiker des Whig-Gedankens fordern (mit gewissem Recht, das Wooton nicht bestreitet), Geschichte dürfe nur in Termini der Zeit beschrieben werden, die sie beschreibt. Aber er hält dagegen, dass wir Geschichte nur rückblickend verstehen können. Für die Protagonisten ihrer Zeit war die zukünftige Entwicklung unvorhersehbar und auch nicht geplant. Der Geschichtsschreiber kann daher Zusammenhänge rückblickend erkennen, die den Zeitgenossen notwendigerweise unbekannt waren, ohne dadurch die Geschichte unzulässig zu glorifizieren oder zu verfälschen.

Dieses Vorhaben ist ihm nach Meinung des Autors dieser Rezension gut gelungen. Wootons Buch ist eine sehr detailreiche, gut recherchierte, auf offensichtlich profunden Kenntnissen der Materie aufgebaute und zugleich (fast immer) sehr gut lesbare, oft spannende und interessant geschriebene Geschichte der wissenschaftlichen Revolution. An einzelnen Stellen sind die entymologischen Analysen etwas langatmig geraten. Auch hätte man sich eine ausführlichere Darstellung der Widerstände gegen die Naturwissenschaften gewünscht, die bekanntlich vor allem in stark katholisch geprägten Regionen Gegenwind zu kämpfen hatten. Speziell den deutschen Leser hätte eine nähere Beleuchtung derjenigen historischen Prozesse interessiert, die dazu führten, dass sich die Naturwissenschaften im deutschen Sprachraum so spät (fast hundert Jahre nach dem englischen, französischen und italienischen) etablierten. Andererseits wartet der Autor mit einer Fülle von neuen Betrachtungen auf und vermeidet Einseitigkeiten und Allgemeinplätze jeder Art. In erkenntnistheoretischer Hinsicht erteilt er sowohl dem radikalen Relativismus als auch dem naiven Realismus eine Absage. In seinen eigenen Worten fasst er seine Position so zusammen:

It must be wrong to say, as Andrew Cunningham does, that sience ist “a human acitivity, wholly a human activity and nothing than a human activity“; it is wholly a human activity, but it is not “nothing but an human activity“. Poetry and Scrabble are nothing but human activities. But science belongs tot he very extensive class of activities which combine the natural and the artificial, which are constrained by both reality and culture.

Und auf die Frage “What do I know?“ antwortet er, nach einer Diskussion der verschiedenen Positionen:

Science offers reliable knowledge (that ist, reliable prediction and contol) not truth. One day we might discover that one of our most cherished forms of knowledge are as obsolete as epicycles, phlogiston, caloric, the electromagnetic ether and, indeed, Newtons physics. But it seems virtually certain that future scientists will still be talking about facts and theories, experiments and hypothesis. This conceptual framework has proved remarkably stable, even while the scientific knowledge it is used to describe and justify has changed beyond all recognition.

Dies ist ein lesenswertes Buch voll überraschender Einsichten, von dessen Umfang man sich nicht abschrecken lassen sollte.

David Wootton: The Invention of Science – a new history of the scientific revolution; Penguin Books – Pengiun-random House UK, 2016; ISBN 978-0-141-04083-7(paperback); 768 Seiten in englischer Sprache; Preis 19,50 £
"Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden. Aber nicht einfacher." (A. Einstein 1871 - 1955)

"Wer nur Chemie versteht, versteht auch die nicht recht!" (G.C. Lichtenberg, 1742 - 1799)

"Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, die die Welt nie gesehen haben." (Alexander v. Humboldt, 1769 - 1859)
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Vanadium
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Beitrag von Vanadium »

Ein schönes Review, danke dafür! :) Es ist faszinierend, aus welcher "ungünstigen" Lage heraus die Wissenschaft sich Stück für Stück entwickelt hat. Noch beeindruckender finde ich, dass die Fortschritte mittlerweile in immer kürzerer Zeit stattfinden. Es bleibt weiterhin spannend und ich bin gespannt, an welchem Punkt die Welt in 50 Jahren steht... :lol:
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

Vanadium hat geschrieben:... ich bin gespannt, an welchem Punkt die Welt in 50 Jahren steht... :lol:
Ich auch, wobei sich mein persönlicher Erwartungshorizont nicht mehr auf 50 Jahre erstreckt - ich hoffe dass es noch 30 oder 35 Jahre werden 8)

Was die technologische Entwicklung angeht bin ich weniger neugierig. das zeichnet sich ja schon ab. Was mich wirklich interessieren würde wäre, ob es nochmal eine neue Therrie zur Struktur der Materie geben wird. Eine ganz neue, einfachere Idee. Unser derzeitiger "Elementarteilchenzoo" erinnert mich irgendwie an das Ptolemäische Weltbild. Damals brauchte man zuletzt ungefähr 20 Epizyklen um die Bewegungen der Planteten korrekt abzubilden. Dann kamen Kopernikus und Kepler, wechselten ein paar einfache Grundannahmen aus und alles löste sich ganz einfach und stringent.
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Pok
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Beitrag von Pok »

lemmi hat geschrieben:Was mich wirklich interessieren würde wäre, ob es nochmal eine neue Therrie zur Struktur der Materie geben wird. Eine ganz neue, einfachere Idee.
Gibts doch. :wink:

Ich fände bei sonem Review eine Zusammenfassung ganz hilfreich. Vielleicht 1 Absatz, sodass das Wesentliche hängen bleibt.
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