Der akademische Unterricht in der Pharmazie um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Ausführliche Berichte zu Fachbüchern.

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immi07
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Der akademische Unterricht in der Pharmazie um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Beitrag von immi07 »

Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann rufe nicht die Menschen zusammen, um Pläne zu machen, Arbeit zu verteilen, Werkzeug zu holen und Holz zu schlagen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer. Dann bauen sie das Schiff von alleine.

Du hast eine Handvoll Brombeeren und wirfst sie zur Erde. Sie verbinden sich mit der Erde zu Erdbeeren. Und Brom wird frei.

Können ist, wenn "Glück gehabt" zur Gewohnheit wird.
Glaskocher
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Re: Der akademische Unterricht in der Pharmazie um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Beitrag von Glaskocher »

Das ist ein interessantes Werk. Ich habe zwar nur das Inhaltsverzeichnis gelesen, kann aber darin die Gliederung des ca. 100 Jahre später erschienenen Werkes "Chemische Unterichtsversuche" von Rheinboldt wiedererkennen. Letzteres Werk wurde als Unterichtshilfe für Chemische Vorlesungen konzipiert und recht lange als Leitfaden an verschiedenen Universitäten genutzt.

Das didaktische Konzept war, daß man anhand der Eigenschaften verschiedener Elementgruppen deren Chemie verstehen sollte.

Interessant daran ist, wie lange dieses Konzept in Grundzügen stabil geblieben ist. Man müßte diese Arbeit im Kontext der sich verändernden Lehrtradition über die Jahrhunderte hinweg betrachten, um einen Trend aufzeigen zu können. Aber DAS könnte Stoff für mehrere weitere Dissertationen und ein Fettes Buch vom Doktoevater liefern, sofern man auf entsprechende Rohdaten (Mitschriften, Konzepte, ...) zurück greifen kann.
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mgritsch
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Re: Der akademische Unterricht in der Pharmazie um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Beitrag von mgritsch »

Ein durchaus reizvoller Einblick was vor gerade mal so 150-170 Jahren "rocket science" war und evtl Hilfe wenn es darum geht Publikationen aus der Zeit Mitte 19. Jhdt zu verstehen. Mit chemischen Unterrichtsversuchen hat es weniger zu tun :)

Das didaktische Konzept ist finde ich vor allem Ausdruck des damaligen Verständnisses der Elemente und Verbindungen. Man vergegenwärtige sich, dass damals gerade mal so die Hälfte des PSE bekannt war (das PSE als solches noch gar nicht, geschweige denn ein Verständnis warum es so aufgebaut ist) und die Vorstellungen teils noch eher von philosophischen Prinzipien geprägt waren.

Ich frage mich oft wie die Welt aussehen würde wenn ich mir ein paar Standardwerke unter den Arm klemmen und durch die Zeit zu Herrn Liebig reisen würde um ihm mal zu erklären wie das alles in Wirklichkeit ist. Würde er das überhaupt begreifen können? Immerhin haben wir heute schon ein ganz anderes Gesamt-Verständnis von der Naturwissenschaft. Wäre die Welt heute ein besserer Ort oder hätten wir uns dann schon längst alle ausgelöscht?

Und last but not least - wissen wir denn tatsächlich wie das alles in Wirklichkeit ist? Wie nahe sind wir heute schon an "alles verstanden haben" und würde ein Zeitreisender aus dem Jahr 2170 genauso über unseren Kenntnisstand, über unsere Modelle und Vorstellungen lächeln?
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lemmi
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Re: Der akademische Unterricht in der Pharmazie um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Beitrag von lemmi »

Das sind sehr interessante Überlegungen !

Ich denke aber, etwas das Liebig und uns verbinden würde, wäre eine gemeinsamer Art, Wissenschaft zu verstehen bzw zu betreiben. Unsere Art durch Hypothese, Experiment, Falsifizierung und Bestätigung zu Aussagen über die Natur zu kommen, ist von seiner nicht verschieden.

Was wir heute wissen, wäre ohne die ganzen Arbeiten im 19 Jahrhundert gar nicht möglich gewesen. Schon Newton hat ja - in vielleicht nicht ganz ehrlicher Bescheidenheit - gesagt, er würde nur weiter sehen als seine Vorgänger, weil er auf den Schultern von Riesen stünde.

Und dem, wie die Welt in Wirklichkeit aussieht können wir uns immer nur annähern. Insofern sind wir heute etwas dichter dran als Liebig, haben aber immer noch sozusagen denselben Standpunkt oder Blickwinkel wie er. Genau wie Newtons Mechanik immer noch gilt, obwohl "in Wirklichkeit" ja die Quantenmechanik gilt.

Ich finde es immer wieder bewundernswert, mit welch einfachen, ja primitiven Methoden damals bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen wurden. Ich frage mich, ob ich in der Lage wäre, einen Chemiker der damaligen Zeit meine heutigen Kenntnisse überzeugend darzulegen!
"Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden. Aber nicht einfacher." (A. Einstein 1871 - 1955)

"Wer nur Chemie versteht, versteht auch die nicht recht!" (G.C. Lichtenberg, 1742 - 1799)

"Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, die die Welt nie gesehen haben." (Alexander v. Humboldt, 1769 - 1859)
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mgritsch
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Re: Der akademische Unterricht in der Pharmazie um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Beitrag von mgritsch »

lemmi hat geschrieben: Freitag 23. April 2021, 23:58Ich denke aber, etwas das Liebig und uns verbinden würde, wäre eine gemeinsamer Art, Wissenschaft zu verstehen bzw zu betreiben. Unsere Art durch Hypothese, Experiment, Falsifizierung und Bestätigung zu Aussagen über die Natur zu kommen, ist von seiner nicht verschieden.
Das ist sicher so, aber genau das könnte die crux sein. Solange es darum geht „einfache“ chemische Fragen die er sich gestellt hat zu beantworten, sehe ich kein Problem. Aber wenn wir mal zum Atomaufbau, Orbitalen, Elektronen, Wellenlängen, Absorption, Energieniveaus, Raumzeit etc. kommen, dann wäre das für ihn eine absurde Welt, wie von einem religiösen Spinner erfunden und vor allem hätte er ohne alle Werkzeuge der modernen Technik keinerlei Chance das zu überprüfen. Er müsste das alles einfach „glauben“. Vielleicht würde darob auch sein Kopf explodieren ;)
er würde nur weiter sehen als seine Vorgänger, weil er auf den Schultern von Riesen stünde.
Viele Zwerge übereinander ergeben auch einen Riesen ;)
Und wie sagte ein anderer: wenn die Sonne tief am intellektuellen Horizont steht, werfen auch Zwerge lange Schatten... :mrgreen:
Und dem, wie die Welt in Wirklichkeit aussieht können wir uns immer nur annähern. Insofern sind wir heute etwas dichter dran als Liebig, haben aber immer noch sozusagen denselben Standpunkt oder Blickwinkel wie er. Genau wie Newtons Mechanik immer noch gilt, obwohl "in Wirklichkeit" ja die Quantenmechanik gilt.
Ich würde mal sagen die Erkenntnis nähert sich asymptotisch der Wahrheit an :) damals gab es sicher noch viele bekannte große Lücken und Relativitätstheorie, Quantenmechanik etc waren wirklich große Sprünge im Gesamtverständnis. Heute füllen wir gefühlt nur noch Details da und dort bzw bestätigen oder lernen sie zu interpretieren und anzuwenden. Haben wir schon zu 95% alles verstanden oder sind wir doch noch eher bei 20% über die der Zeitreisende lächeln würde?

Die einzigen Hinweise auf mögliche substanzielle Lücken sehe ich derzeit bei der erschreckend großen Menge an dunkler Materie und Energie die zur Erklärung des Kosmos notwendig sind und in der Tatsache dass es nach wie vor keine große vereinheitlichte Theorie der Kräfte gibt.
Ich frage mich, ob ich in der Lage wäre, einen Chemiker der damaligen Zeit meine heutigen Kenntnisse überzeugend darzulegen!
Genau das meinte ich mit „würde er das überhaupt begreifen können“ :)
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lemmi
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Re: Der akademische Unterricht in der Pharmazie um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Beitrag von lemmi »

...dann wäre das für ihn eine absurde Welt, wie von einem religiösen Spinner erfunden und vor allem hätte er ohne alle Werkzeuge der modernen Technik keinerlei Chance das zu überprüfen. Er müsste das alles einfach „glauben“.
Genau das meinte ich mit „würde er das überhaupt begreifen können“ :)
Könntest du ihm (oder überhaupt irgendjemandem ) die experimentelle Begründung unserer heutigen Kenntnisse schlüssig darstellen? Ich könnte das nicht. Liebig hat zu seiner Zeit die Befunde, auf Basis derer die Theorien entwickelt wurden, überblicken können. Ich könnte ihm nicht schlüssig erklären wieso wir annehmen, dass es Elektronenpaare gibt - um nur ein Beispiel zu nennen. Ich "glaube" das, was unser heutiger Stand der Kenntnis ist, einfach, weil es in den Büchern steht und ich der wissenschaftlichen Community vertraue. Die Masse der zugrundeliegenden Beobachtungen könnte ich überhaupt nicht überblicken
Vielleicht würde darob auch sein Kopf explodieren ;)
Geht mir ja manchmal auch so, wenn es zu kompliziert wird schalte ich ab und merke mir nur die Quintessenz 8)
Relativitätstheorie, Quantenmechanik etc waren wirklich große Sprünge im Gesamtverständnis. Heute füllen wir gefühlt nur noch Details da und dort bzw bestätigen oder lernen sie zu interpretieren und anzuwenden
Haben wir schon zu 95% alles verstanden oder sind wir doch noch eher bei 20% über die der Zeitreisende lächeln würde?
Wissen wir nicht!

Als Max Planck angefangen hat Physik zu studieren, haben ihm seine Dozenten gesagt, dass auf diesem Gebiet nicht mehr viel zu gewinnen sei, da die Theorie seit den Maxwellschen Gleichungen weitestgehend abgeschlossen sei...

Es kann gut sein dass auch wir nur 5% der Welt verstanden haben oder unsere jetzigen Theorien auf einem völligen Holzweg sind, so wie seinerzeit Ptolemäus mit den Planetenbahnen um die Erde. Um die Theorie mit den Beobachtungen abzugleichen dachte er sich immer neue überlagerte Kreisbahnen (Epizyklen) aus. Wir haben heute ein irrsinnig komplziertes System von dutzenden Elementarteilchen, von denen immer ein neues postuliert wurde, um die Eigenschaften des vorigen zu erklären. Vielleicht kommt in 10, 20 oder 100 Jahren irgendjemand auf eine grandiose Idee die das alles total vereinfacht und die danach kommenden werden sagen: “wie konnten die vorher nur diese abstrusen Theorien entwickeln?“
Und wie sagte ein anderer: wenn die Sonne tief am intellektuellen Horizont steht, werfen auch Zwerge lange Schatten... :mrgreen
:lol: Toller Spontispruch! Muss ich mir merken! :yeah:
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mgritsch
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Re: Der akademische Unterricht in der Pharmazie um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Beitrag von mgritsch »

lemmi hat geschrieben: Sonntag 25. April 2021, 10:23 Könntest du ihm (oder überhaupt irgendjemandem ) die experimentelle Begründung unserer heutigen Kenntnisse schlüssig darstellen? Ich könnte das nicht. Liebig hat zu seiner Zeit die Befunde, auf Basis derer die Theorien entwickelt wurden, überblicken können. Ich könnte ihm nicht schlüssig erklären wieso wir annehmen, dass es Elektronenpaare gibt - um nur ein Beispiel zu nennen.
Damals vor 20 Jahren als alles vom Studium noch frisch war könnte ich wohl das meiste sauber herleiten, heute ist auch schon viel in Vergessenheit geraten. Elektronenpaare - Beginnend mit: Grundlegender Atomaufbau aus Kern+Elektron -> Quantenpyhsik -> Orbitalmodell -> Molekülorbitale -> Besetzungsregeln nach Pauli/Hund. Letztendlich alles eine Frage der Energie-Minima. Experimentelle Befunde dafür: vor allem Spektroskopisch (zB ESR), und damit müssten wir uns sowohl mit der ganzen Theorie der Spektroskopie erst auseinandersetzen (Bunsen war zu der Zeit gerade mal dabei das zu entwickeln... er konnte immerhin schon Linien Elementen zuordnen) und konzeptionell wesentlich erweitern... Genaugenommen müsste er jeden einzelnen Schritt erst nachvollziehen und am Ende bräuchte er das ganze moderne Gebäude der Mathematik, Physik und Elektronik um das nachvollziehen zu können. Nur Teile davon nachvollziehen geht einfach nicht, genauso gut kann man einfach alles nur glauben. Andererseits: Das Modell erklärt zumindest mal sehr gut die damals bereits bekannten Stöchiometrien, also könnte alleine das in erster Näherung auch genug experimenteller Befund sein.
Ich "glaube" das, was unser heutiger Stand der Kenntnis ist, einfach, weil es in den Büchern steht und ich der wissenschaftlichen Community vertraue. Die Masse der zugrundeliegenden Beobachtungen könnte ich überhaupt nicht überblicken
Naja ich habe nicht jeden Schritt persönlich experimentell überprüft aber ich denke schon dass ich grundsätzlich in der Lage bin die "Historie" was zu was geführt hat nachzuvollziehen (und ja, vertraue auch darauf dass die überprüft wurden). So gesehen muss ich nicht unbedingt die "Kurzfassung" die am Ende steht einfach so glauben.
Wissen wir nicht!
Das war klar (es sei denn du bist doch ein Zeitreisender?). Die Frage hätte eher darauf abgezielt was deine persönliche Einschätzung ist :)
Um die Theorie mit den Beobachtungen abzugleichen dachte er sich immer neue überlagerte Kreisbahnen (Epizyklen) aus. Wir haben heute ein irrsinnig komplziertes System von dutzenden Elementarteilchen, von denen immer ein neues postuliert wurde, um die Eigenschaften des vorigen zu erklären.

Sehr gutes Beispiel, da denke ich auch schlummert noch ein "Big Picture" das es zu entdecken gilt.
:lol: Toller Spontispruch! Muss ich mir merken! :yeah:
Herkunft nicht ganz klar, wird gerne Karl Kraus zugeschrieben könnte aber auch von einem Schweizer Sprichwort abstammen...

Aber machen wir noch ein kleines Gedankenexperiment. Dein letzter Vorrat an Chronol :mrgreen: - gerade noch genug für eine Stunde. Das Geplänkel wer du bist und dass du wirklich aus der Zukunft stammst und nicht aus der Irrenanstalt ist erledigt, du musst nur noch medias in res gehen. Bücher kannst du nicht mitnehmen, aus irgend einem Grund verschwindet die Schrift bei der Zeitreise :)

Was würdest du ihm in der einen Stunde mitgeben wollen?
Was denkst du wären seine brennendsten Fragen an dich?

Würdest du es überhaupt machen? Oder stünde zu fürchten dass dann zB im 1. Weltkrieg schon Unmengen Atombomben geworfen werden? Dass die ungebremst wachsende chemische Industrie ohne das nötige Verständnis von der Umwelt binnen weniger Jahrzehnte alles nachhaltig vergiftet? Ist es nicht eher gut so dass Wachstum (auch von Wissen) seine Zeit braucht?
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mgritsch
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Re: Der akademische Unterricht in der Pharmazie um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Beitrag von mgritsch »

mgritsch hat geschrieben: Sonntag 25. April 2021, 19:53 Die Frage hätte eher darauf abgezielt was deine persönliche Einschätzung ist :)
Nachtrag - hier bin ich selbst noch meine Einschätzung schuldig geblieben. Ich sehe uns dzt bei vermutlich ca 60-70%.

Ich glaube wir haben schon sehr viel über das Wechselspiel von Materie und Energie verstanden (in der Vorlesung hieß es noch: Körper und Imponderabilien bzw. "strahlende Potenzen" :) ) - sei es als E=mc² oder Welle Teilchen Dualismus, auch Quantenmechanik zeigt letztendlich wie unsere Welt in Wellen beschreibbar ist und warum Elektromagnetismus mit Materie wechselwirkt.

Ich sehe noch fundamentale Lücken in der Erklärung der Materie ansich - man könnte sagen die Frage "warum ist etwas und nicht nichts" ist noch lange nicht beantwortet :) Egal ob das jetzt der genannte Teilchenzoo ist, die dunkle Materie oder das Rätsel warum es nicht gleich viel Materie und Antimaterie gibt - da klafft definitiv noch eine große Lücke. Ich prognostiziere dass auch hier zuerst die Mathematik die Antwort geben wird und es dann wieder 100 Jahre dauert bis das verstanden und experimentell geprüft ist.

Welche Folgen die Beantwortung dieser Fragen haben wird - keine Ahnung. Ist es nur eine akademische Erkenntnis und das Gebäude wird damit wieder ein bisschen stattlicher und solider? Oder kann das unser Leben und Technologie nachhaltig verändern?
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lemmi
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Re: Der akademische Unterricht in der Pharmazie um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Beitrag von lemmi »

Deine 60 oder 70% beziehen sich auf die uns derzeit bewussten offenen Probleme! Damit könnte ich mich einverstanden erklären. Aber das bezieht sich nur auf den Horizont des uns momentan Bekannten und sagt insofern wenig darüber aus, wie nahe wir an der "Wahrheit" sind.

Es ist möglich, dass morgen ein Phänomen entdeckt wird, das ein komplett neues Feld auftut! Und dann stehen wir wieder bei 5%. Oder bei Null. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, worin so ein ein neues Feld bestehen könnte, aber das haben Überraschungen nun mal so an sich... :wink:

Was würdest du ihm in der einen Stunde mitgeben wollen?
Was denkst du wären seine brennendsten Fragen an dich?

Würdest du es überhaupt machen? Oder stünde zu fürchten dass dann z.B. im 1. Weltkrieg schon Unmengen Atombomben geworfen werden? Dass die ungebremst wachsende chemische Industrie ohne das nötige Verständnis von der Umwelt binnen weniger Jahrzehnte alles nachhaltig vergiftet? Ist es nicht eher gut so dass Wachstum (auch von Wissen) seine Zeit braucht?
Ein sehr reizvolles Gedankenexperiment! Meines Wissens nach ist es Konsens, dass Zeitreisen in die Vergangenheit (oder in die Zukunft mit Rückkehr ins jetzt, also von dort in die Vergangenheit) den Fluss der Zeit verändern würden, so dass die Zukunft aus der der Zeitreisende kommt, nicht mehr eintritt. Die Frage ist, ob die andere Zukunft besser ist.

Ich glaube, es ist nicht so einfach "natürliche" Wachstumsprozesse auszuhebeln. Wenn man Wissen von heute in Liebeigs Zeit verpflanzen würde, würde es vermutlich einfach gar nicht "anwachsen". Und zwar weil die wissenschaftliche Community noch nicht dafür aufnahmefähig war. Vielleicht hätte Liebig sich über ein paar später gefundene Synthesewege für Grundstoffe sehr gefreut (ich denke spontan an die Ammoniaksynthese und das Kontaktverfahren zur Erzeugung von Schwefelsäure). Und ich vermute - praktisch veranlagt wie er war - dass er uns gefrgat hätte, ob wir nicht ein kostengünstiges Herstellungsverfahren für den Salpeter kennen, den er für seinen Kunstdünger von weit her aus Chile importieren musste.

Aber die Atombombe wäre kaum im ersten Weltkrieg gekommen (wenn der im neuen Strom der Zeit überhaupt stattgefunden hätte), weil zu Liebigs Zeit die Atomhypothese nur die philosophische Idee eines Grundschullehrers aus England war. Nützlich zwar, aber von keiner klaren Realität. Ich bin sicher, selbst die Becquerelstrahlen wären ihm nur kurios vorgekommen. Er hätte keine Idee gehabt, was er damit anfangen sollte (nicht mal Röntgenstrahlen waren bekannt, wann Gasentladungsröhren erfunden wurden, weiß ich gerade nicht). Es braucht immer ein Netzwerk an Ideen, theoretischem Handwerkszeug (mathemathischem!) und parallelen Entwicklungen in anderen Fächern, damit etwas entsteht.

Es gibt dazu ein schönes historisches Beispiel: Weißt du, wann der erste organische Nitrosprengstoff entdeckt wurde? Das war im 15 Jahrhundert! Es gibt ein schriftliches Dokument aus der Zeit (ein "Feuerwerksbuch"), das die Herstellung von "Schießwasser" aus Salpetergeist (HNO3), Vitriolöl (H2SO4) und einer organischen Flüssigkeit beschreibt. Das Rezept hat aber nicht dazu geführt, dass schon in der Renaissance Dynamit die Kriegsführung und den Strassenbau in den Alpen veränderte. Warum? In den Abschriften des ursprünglichen Textes wurde dieser immer mehr verfälscht. Es wurden andere Säuren angegeben, Alkohol statt Salpetersäure etc. So entstand eine Literatur, die etwas weitergab, das nicht funktionieren konnte. Und zwar, weil die "Umgebungskenntnisse" fehlten. Die Rezeptur wurde nach anderen Gesichtspunkten beurteilt als es angemesen gewesen wäre. Man hat z.B. so gedacht: "wenn es eine Säure tut, muss es auch eine andere tun" oder "ein Geist (Salpetergeist) kann durch einen anderen Geist (Weingest) ersetzt werden". Das Prinzip war ja dasselbe und in der damaligen Denkweise kam es auf das übergeordnete Prinzip an... (Quelle: S.J von Romocki: Geschichte der Explosivstoffe, Kapitel VI)

Ich für meinen Teil würde Liebig für seine Arbeiten danken und ihm sagen, dass er stolz auf sein Schaffen sein kann (eine Rückmeldung die er sicher nicht nötig hatte ...). Alleine seine Elementaranalysenmethode hat während mindestens 100 Jahren Generationen von Chemikern auf der ganzen Welt geholfen, die Zusammensetzung von Substanzen aufzuklären (wie machen wir das eigentlich heute?). Von den Auswirkungen des Kunstdüngers ganz zu schweigen!
"Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden. Aber nicht einfacher." (A. Einstein 1871 - 1955)

"Wer nur Chemie versteht, versteht auch die nicht recht!" (G.C. Lichtenberg, 1742 - 1799)

"Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, die die Welt nie gesehen haben." (Alexander v. Humboldt, 1769 - 1859)
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