Das Violett der Wiwa

Organische Chemie.

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lemmi
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Das Violett der Wiwa

Beitrag von lemmi »

Die Wiwa (sprich “uiua“) sind ein indigener Volksstamm, der die nördlichen Teile der Sierra Nevada de Santa Marta, einem Gebirge im Nordosten Kolumbiens nahe der karibischen Küste, bewohnt. Auf meiner Reise im März dieses Jahres hatte ich auf einer Wanderung durch das Gebiet die Gelegenheit, etwas über die Kultur und Mythologie dieser Menschen zu erfahren. Unter den Kulturtechniken der Wiwa sind aus einem chemischen Blickwinkel betrachtet - neben dem allfälligen Kokakauen und der damit verbundenen Darstellung von gebranntem Kalk aus Muschelschalen - vor allem die Pflanzenfarben interessant, die sie verwenden.

Karte 2.jpg

Die Wiwa kultivieren eine mit den Agaven verwandte Pflanze (Furcraea ssp.), die in Kolumbien fique heißt, aus deren Blättern sie auf mechanischem Wege, durch Abschaben des Blattparenchyms mit Hilfe eines großen, hölzernen Spatels auf einer langen Holzrinne, lange Fasern gewinnen. Diese werden von den Frauen zu einem ziemlich derben Garn versponnen und zu Körben und Umhängetaschen, mochilas verwebt.

Fique-Fasergewinnung.jpg
mochila 1.jpg

Zum Färben der von Natur aus blassbeigen Fasern verwenden die Wiwa traditionell drei Farbstoffe pflanzlichen Ursprungs: Violett – die Farbe der Frauen, Orange – die Farbe der Männer und Gelb - das die oberste Gottheit, den Sonnengott repräsentiert. Die Fasern werden nicht gebeizt und in dem Pflanzensud mazeriert oder gekocht. Letzteres soll sie deutlich haltbarer machen.

Farben der Wiwa 1.jpg
Farben der Wiwa 2.jpg

Die Pflanze, aus der der gelbe Farbsud hergestellt wird, ist auf den ersten Blick zu identifizieren: es handelt sich um Curcuma longa. Was zugleich bedeutet, dass die Wiwa hier einen Austausch mit den europäischen Einwanderern vollzogen haben, denn die Kurkuma ist in Ostasien heimisch und traditionell müssen andere Pflanzen verwendet worden sein. Das Orange stammt von einem punta de lanza genannten Baum (Vismia baccifera), den unser Führer Andrés mir zeigte und der einen orangefarbenen Milchsaft führt.

Curcuma longa.jpg
Abb: Wurzelstöcxke von Curcuma longa und der daraus hergestellte gelbe Sud

Orange.jpg
Abb: Junge Pflanze von Vismia baccifera. Am abgebrochenen Stängel tritt der orangefarbene Milchsaft aus.


Am interessantesten ist aber das Violett! An einem Punkt des Treks - wir hatten gerade eine kleine Siedlung der Indios passiert - präsentierte uns Andrés zwei unscheinbare ovale Blätter. Er verrieb sie in seiner Handfläche mit ein paar Tropfen Wasser zu einem Brei, und auf der Haut hinterblieben gelbbraune Flecken. Nun blies er über seine Handfläche und schwenkte die Hand ein wenig und – Hokuspokus! - die Flecken färbten sich tief violett! (leider habe vor lauter Staunen vergessen, davon ein Foto zu machen...)

Ganz offensichtlich war - möglicherweise unter Mitwirkung pflanzeneigener Enzyme - eine Oxidation eines in den Blättern enthaltenen Stoffes eingetreten, worauf sich der violette Farbstoff bildete. Leider bekam ich den zugehörigen Baum, “Ula“ genannt, nicht zu Gesicht, da das einzige Andrés bekannte Exemplar im Garten eines Schamanen stand und mit diesem vereinbart worden war, dass Besucher keinen Zutritt haben würden. Also nahm ich mir ein paar Milliliter des Farbsuds, der aus den Blättern angefertigt worden war, in einem Röhrchen mit, konservierte ihn durch Zugabe der gleichen Menge Händedesinfektionsmittel und brachte ihn zur Analyse mit nach Hause. Nach dem Eindunsten auf der Heizung hinterblieb eine dunkel braunviolette Kruste, die auch im Exsikkator nicht völlig trocken wurde und außerdem unlösliche Bestandteile enthielt.

Wiwa Violett.jpg

Mein Verdacht war, dass es sich bei diesem Farbstoff um Hämatoxylin, bzw. sein Oxidationsprodukt Hämateín, handelte. Die Stammpflanze Haematoxylum campechianum ist in Süd- und Mittelamerika heimisch. Ich habe also eine konzentrierte Lösung (oder besser: einen konzentrierten Auszug) des Farbstoffes in Ethanol 96% hergestellt und mit Vergleichslösungen aus Hämatoxylin und Hämateín (2 mg/ml Ethanol) einer DC unterworfen. Nach längeren Versuchen - im Verlaufe derer ich als Laufmittel u.a. die in der Literatur genannte 1N Salzsäure, Ethanol 80%, sowie verschiedenen Mischungen aus Petrolether, Ethylacetat, Methanol, Wasser, Ammoniak und Säuren probiert habe (in basischen und unpolaren Laufmitteln bewegten sich die spots gar nicht von der Startlinie) - erhielt ich brauchbare Ergebnisse mit folgendem Laufmittelgemisch: Ethylacetat 10,0 ml + Ameisensäure 0,5 ml + Wasser 0,5 ml. Der Spot des Hämatoxylins ist im vis nicht sichtbar, tritt aber nach Bedampfen der Folie mit Ammoniak kräftig graublau hervor:

DC mit EA-Ameisensäure-Wasser, Hämatoxylin  -Hämatein - Farbstoff.jpg
(v.l.n.r.: Hämatoxylin – Hämateín – Untersuchungslösung)

Die Rf-Werte sind eindeutig verschieden, es handelt sich also nicht um Hämatoxylin/Hämateín. Nun gibt es in der Region eine nahe verwandte Art, Haematoxylum brasiletto, die Brasilin, ein Derivat des Hämatoxylins mit gleichen Färbeeigenschaften, enthält. Dazu hatte ich keine DC-Referenz, das chemische Verhalten sollte aber gleich sein. Also habe ich Reagenzglasversuche angestellt.

Zu je 1 ml Wasser wurden 100 µl der Hämateínlösung bzw. der Untersuchungslösung gegeben. Es entstand eine hellviolette bzw. blassviolette Lösung. Diese wurde mit Reagenzien versetzt.

a) Nach Zugabe von etwas Alaun bildete sich mit Hämateín der bekannte, tiefviolette Farblack aus, mit der Untersuchungslösung war keine Veränderung zu beobachten.
b) Nach Zusatz eines Tropfens Schwefelsäure schlug die Farbe der Untersuchungslösung nach braunrot, die des Hämateíns nach braungelb um. Mit einem Überschuss Ammoniak trat in beiden Fällen eine violette Färbung auf.

Das passte dazu, dass die Färbung ohne Beize durchgeführt wird und sprach wieder gegen das Vorhandensein eines Hämatoxylinabkömmlings. Außerdem werden von den Haematoxylon-Arten das Holz oder Rinde, nicht jedoch die Blätter, zum Färben verwendet. Die Farbänderung je nach pH und die Immobilität der Spots bei der DC im basischen Milieu spricht für das Vorhandensein von Carboxyl- oder phenolischen OH-Gruppen mit einer Anionenbildung bei Zugabe von Alkali.

Was kommt noch in Frage? Ich zog ein Anthocyan oder Anthrachinon in Betracht, evtl auch ein Flavonoid. Folglich habe ich die DC wiederholt und als Referenzsubstanzen diesmal Emodin, Aloin und eine Lösung von Aloe capensis DAB6 (je 2 mg/ml) mitlaufen lassen. Das Laufmittel war dasselbe wie oben. Im Vis zeigte sich in der Untersuchungssubstanz ein violetter Spot auf der gleichen Höhe wie das Emodin, welches allerdings gelb gefärbt war. Dann wurde die Folie mit Naturstoffreagenz (Diphenylboryloxyethylamin + Macrogol 400) behandelt und heiß geföhnt, worauf sich die Farben änderten. Im langwelligen UV (365 nm) stellen sich die Substanzen als bunt fluoreszierende Spots dar.

DC Emodin - Aloin-Aloe - Farbstoff nativ.jpg
Abb: DC im vis (v.l.n.r. Emodin – Aloin – Aloe capensis – Untersuchungslösung)

DC Emodin - Aloin-Aloe - Farbstoff mit Naturstoffreagenz.jpg
DC Emodin - Aloin-Aloe - Farbstoff mit Naturstoffreagenz im UV 365nm.jpg
Abb: DC nach Behandeln mit Naturstoffreagenz oben im vis, untern im UV 365 nm (v.l.n.r. Emodin – Aloin – Aloe capensis – Untersuchungslösung)

Indem der Rf-Wert des Wiwa-Farbstoffes dem des Emodins entspricht und sich deutlich von dem des Glykosids Aloin unterscheidet gehe ich davon aus, dass es sich um ein Antrachinon handelt. Auch ein Flavonoid käme in Frage, dagegen spricht aber die fehlende Farbvertiefung mit Aluminiumionen, die bei Flavonoiden die Regel ist (wovon man sich an einem kräftigen Kamillentee überzeugen kann). Außerdem wäre bei einem (phenolischen) Anthracenderivat eine Oxidation zu einem farbigen Chinon gut vorstellbar.

Schließlich wurde ich bei Recherchen im Internet auf folgenden Artikel aufmerksam: Colorantes presentes en mochilas Ika de la colección etnográfica del Världskulturmuseet (Antiguo Museo Etnografico) en Gotemburgo, Suecia, realizada por Gustav Bolinder. Dort findet sich als Quelle von purpur-violetten Farbtönen der Baum Picramnia gracilis erwähnt. Zur Färbung dient ein Absud aus den Blättern. Als Inhaltsstoffe wurden Emodin, Aloemodin, Nataloemodin und Crisophanol gefunden, was zu meinen Befunden passt. Bei den Ika, einem weiteren in der Sierra Nevada de Santa Marta beheimateten Volksstamm, heißt der Baum “Urú“, was phonetisch dem “Ula“ der Wiwa nahekommt. Die Stammpflanze des Violetts der Wiwa könnte somit Picramnia gracilis sein. Leider wird der Chemismus der Färbung, insbesondere die Farbstoffbildung aus zunächst ungefärbten Vorstufen, in dem Artikel nicht erklärt.
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aliquis
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von aliquis »

Schöner Beitrag! :thumbsup: Direkt etwas von der Reise für die Analyse im Labor mitzubringen, ist der bestmögliche Ausklang eines Urlaubs (solange es nichts Mikrobiologisches ist... :wink: ).

Man sollte dabei lediglich die Einfuhrbestimmungen beachten, damit es beim Zoll keinen Ärger macht - insofern bin ich froh, dass es in Deinem Fall der Farbstoff und nicht das Koka war... :mrgreen:
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mgritsch
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von mgritsch »

Ah, sehr cool :) vermutlich hätte der Besuch des Baumes auch nicht mehr Klarheit über die Chemie des Farbstoffes gebracht. Erstaunlich dass so ein Naturprodukt (fast) nur 2 Spots gibt! Und jetzt kenne ich ein schönes Anwendungsbeispiel für Diphenylboryloxyethylamin :)

Der Prozess auf der Hand ist bemerkenswert, so eine leichte Oxidation (binnen Sekunden an der Luft) ist mal ein Hinweis auf ein Polyphenol. Hämatoxylin/Hämatein wäre also durchaus passend, war aber schon mittels Rf der ersten DC ausgeschlossen.

Anthocyane sind hübsch und bunt aber zum färben wenig tauglich da sie sich leicht zersetzen.

Das Emodin kommt zwar beim gleichen Rf aber zeigt doch recht andere Farben mit Diphenylboryloxyethanol, so ganz geklärt ist das also eher nicht..?
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Uranylacetat
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von Uranylacetat »

Ein interessanter Ausflug abseits bekannter Pfade, wie ich finde! :thumbsup: Deine Reisen nach Südamerika und Berichte von diesen faszinieren mich immer wieder ...
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von Glaskocher »

[OT]
Der Beutel mit den verschiedenen Farben sieht interessant aus. Da ich mich momentan auch mit dem Nadelbinden beschäftige bin ich neugieruíg, in welcher Technik dieser Beutel gemacht worden ist. Die Gewebetextur sieht nicht nach gehäkelt aus, zumindest nicht nach den klassischen "festen Maschen". Der Oberrand zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit Gehäkeltem, aber die diagonalen Stapel von "Maschen" lassen mich etwas Anderes vermuten. Bin mal gespannt, welche Info es dazu gibt...
[/OT]
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mgritsch
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von mgritsch »

Andere Frage noch - wie machen sie eigentlich das "weiß"? Naturfasern sind meist eher gelblich-braun, haben sie da ein spezielles Bleichverfahren?
Glaskocher
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von Glaskocher »

Wenn ich mir das oberste Bild (Agavenblatt schaben) ansehe, dann denke ich, daß da nicht viel Arbeit bis zum Farbeindruck "Weiß" ist. Wenn die fertig geschabten Fasern mit Wasser ausgewaschen sind und in der Sonne trocknen, dann müßten sie fast schon dieses "Weiß" haben. Unfermentierte Fasern von Brennnesseln und anderen Pflanzen sind auch sehr hell.
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lemmi
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von lemmi »

So ist es.

Könnten denn die Emodine oder das Crisophanol durch Oxydation/Dimerenbildung farbige Reaktionsprodukte ergeben? So etwa von der Struktur des C.I. Vat blue 4
Zwischenablage03.jpg
Zwischenablage03.jpg (22.31 KiB) 3460 mal betrachtet
Ich seh`das irgendwie nicht, wie das gehen sollte ... :?
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Glaskocher
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von Glaskocher »

Was wäre denn das Monomere von diesem Molekül? Sitzt da irgendwo noch eine OH-Gruppe, die als Wasser eliminiert wird?

Ich könnte mir vorstellen, daß da ein 1-Amino-2,9,10-trihydroxyanthracen* die Ausgangsverbindung sein könnte. Mit Luftsauerstoff oxidiert es zum Anthrachinon und die Hydroxi- und Aminogruppen reagieren miteinander. Eventuell wird auch noch von der 2-Hydroxy-Gruppe ein Zucker aus dem Vorläuferglykosid abgespalten. Die 9-er und 10-er Positionen könnten auch glykosidisch geschützt sein, bevor das Blatt zerstört wird und Enzyme die Zucker abtrennen.
* = oder 2-Amino-1,9,10-trihydroxyanthracen

PS: Könntest Du mir eine Nahaufnahme von einem Farbwechsel an dem schönen Beutel machen? Ich will mal versuchen die textile Technik zu erkennen. Ich habe eine Idee, müßte sie aber erst verifizieren. Es könnte "Einhängendes Verschlingen mit Einstich in tiefere Reihen" sein oder das ähnliche "durchstechende Verschlingen mit..." .
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mgritsch
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von mgritsch »

lemmi hat geschrieben: Montag 18. April 2022, 21:48 Könnten denn die Emodine oder das Crisophanol durch Oxydation/Dimerenbildung farbige Reaktionsprodukte ergeben?
Also wenn ich mir die DC ansehe, dann hast du zwei "Hauptspots":
A: ein gelblicher auf gleicher Höhe wie Emodin, Rf= 0,76. Er erscheint etwas dunkler orange und gibt mit Diphenylboryloxyethanol eine blaue statt einer roten Färbung.
B: ein violetter, etwas unter Emodin, Rf = 0,72, seine Farbe ändert sich mit Diphenylboryloxyethanol nicht.

Und dann gibt es noch eine ganze Reihe kleinerer Nebenspots darunter und darüber die nur schwach sind bzw nur im UV hervortreten. Jeder für sich - wenig, in Summe kann das aber schon stark bestimmend sein für das gesamte Farbergebnis.

Als compilation:
2022-04-19 11_58_25-Präsentation2.pptx - Microsoft PowerPoint.png
Bei Spot A würde ich aufgrund Farbe und Position auf einen nahen Verwandten des Emodin tippen - evtl ein Stellungsisomer?
Bei Spot B würde ich auf die gleiche Stoffklasse tippen, also Anthrachinon bzw Alizarin-Farbstoffe. Die sind ja per se sehr reich an Varianten (siehe zB https://de.wikipedia.org/wiki/Alizarin# ... farbstoffe) und können viele Farben im Bereich rot-blau-violett spielen, mit oder ohne Komplexbildung mit entsprechenden Kationen. Eine vergleichende DC wo zB Alizarin, Chinalizarin, Purpurin etc liegen und wie sie mit Diphenylboryloxyethanol reagieren wäre hilfreich die These zu prüfen.

Eine Dimer-Bildung wie von dir vorgeschlagen halte ich für nicht erforderlich (die sind schon bunt genug :) ) bzw in der Stoffklasse eher schwer zu bewerkstelligen. Wäre mir jedenfalls nicht bekannt.

Die andere schwierige Frage ist die Genese - denn offensichtlich liegt der Farbstoff nicht frei (oder Glykosidisch) in der Pflanze vor, sonst gäbe es keinen Hokuspokus-Effekt von Gelbbraun zu Violett. Denkbar wäre zB dass das Anthrachinon-Gerüst ursprünglich noch nicht vorliegt sondern dass hier zB ein oder zwei -NH2 vorliegen (Anthracen-9,10-diamin, ggfs ursprünglich glykosidisch geschützt), die Aminophenole sind idR sehr oxidationsempfindlich und würden rasch in die (Anthra-)Chinone oxidiert. Auch entsprechende Phenole (ausgehend vom 9,10-Dihydroxyanthracen-Grundgerüst Anthrahydrochinon) wären als Precursor denkbar.

p.s.: lt Feigl gibt es einen Spot-test auf Anthrachinone - beim Erwärmen mit einer Lösung von Dithionit in NaOH sollte es durch Bildung des Anthrahydrochinon rot werden. Anthrahydrochinon wird sehr leicht durch Luft oxidiert und ist nur in so starken Reduktionsmitteln stabil. a) könnte man das ggfs mit dem DC Fleck probieren und b) passt zur Hypothese - ursprünglich ein am OH glykosidisch geschütztes Anthrahydrochinon, sobald der Zucker ab ist greift O2 an und ein Anthrachinon-Derivat bildet sich.
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lemmi
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von lemmi »

Danke für die Anregungen! Das kombinierte Bild ist Klasse, noch dazu mit Rf-Skala!
Chinalizarin müsste ich da haben - die anderen Vergleichssubstanzen leider nicht, aber vielleicht Rhein.
Den Spot-test könnte ich noch mit eine Spur Originalsubstanz probieren.

Die in Picramnia gracilis nachgewiesenen Anthrachinone sind folgende:
Anthrachinone.jpg

@Glaskocher: Ist das ausreichend?

mochila detail.jpg
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von Glaskocher »

Danke, das Bild ist sehr gut. Ich erkenne die "einfache Verschlingung, in die vorletzte Reihe eingestochen" als Herstellungstechnik. Eventuell werde ich diese Technik mal mit Brennnesselfasern reproduzieren. Das Nadelbinden ist in Südamerika eine uralte und weit verbreitete textile Technik. Man näht im Prinziep immer eine neue Reihe Saumstich auf den Rand des vorhandenen Gewebes und vergrößert dadurch seine Fläche. Diese Technik kommt langsamer voran als Häkeln oder Stricken, hat aber den Vorteil, daß sie keine Laufmaschen kennt. Selbst die Ränder eines hinein geschnittenen Loches dröseln nur sehr langsam auf. Im Gegensatz zu Häkeln und Stricken muß man den Arbeitsfaden in regelmäßigen Abständen neu ansetzen, da man bei jedem Stich immer das gesamte Fadenende durchziehen muß.

Buchtipp: Einhängen und Verschlingen, Maschenbildung mit vorangeführtem Fadenende von Monika Künti (2014 im Haupt Verlag, Bern)


PS: Das Bild steht auf dem Kopf...;--)
Man erkennt es an der umgekehrten Farbfolge zum hängenden Beutel. Auch die Arbeitsrichtung geht von oben nach unten, unten im Bild wurde also die letzte Reihe gearbeitet.
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lemmi
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von lemmi »

PS: Das Bild steht auf dem Kopf...;--)
Ja, hab ich auch gesehen - mal wieder das doofe Windows! :?
Aber ich dachte mir, dass es in dem Falle nicht so wichtig ist, und du hast ja sogar gleich Schlussfolgerungen daraus gezogen. :D
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von Glaskocher »

Das ist schon in Ordnung. Jetzt fehlt mir nur noch ein Detail, das aber nicht so einfach zu finden ist. Wenn z.B. der weiße Faden zuende ist und mit Violett fortgesetzt werden soll, dann müssen beide Fäden irgendwie miteinender verbunden werden. Dazu müßte ich die Verbindungs- oder Übergangsstelle finden und dem Fadenlauf folgen können. Bei Wolle wird meistens angefilzt, was aber wegen der eher glatten Agavenfaser hier nicht möglich ist. Entweder legt man den kurzen Faden zur Seite und nadelt mit dem Neuen weiter, um die losen Enden im Anschluß vernähen zu können, oder man knotet sie so zusammen, daß der Knoten innen liegt und beim nächsten Einstich nicht mit durchgezogen werden muß. Ich tippe auf die erste Variante, weil sie ein gleichmäßigeres Ergebnis ergibt.

Bei einer eigenen Arbeit aus Brennnesselfaser hatte ich den Faden durch "Zwirnen" hergestellt. Dabei werden immer im Wechsel die beiden "Adern" ein Stück verlängert und dann im Anschluß miteinender verdrehen gelassen, um einige Zentimeter neuen Faden zu erzeugen. Das Ergebnis ist ein Faden, der im Drall neutral ist, wie wenn man zuerst ein Einzelgarn spinnt und es dann später über die gesamte Länge zwirnt. Letzteres hat aber oft weniger Gesamtdrall. Das im Beutel verwendete Garn sieht aus, wie erst gesponnen und später gezwirnt.
Alf
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Re: Das Violett der Wiwa

Beitrag von Alf »

Eine spannende Reise verbunden mit spannender Naturstoffchemie, besser geht es kaum :thumbsup: ich hätte beim Lesen auch an Hämatoxylin gedacht..
@lemmi hast du eine Literaturvorschrift zur DC von Hämatoxylin/Hämatein gefunden, ich finde immer nur 1N Salzsäure hatte damit aber noch keinen Erfolg..
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