Die beiden Isomere des Diammindichloroplatin(II) wurden nahezu zeitgleich entdeckt. Als erster berichtete der französische Chemiker Jules Reiset (1818-1896) im Herbst 1844 über eine Substanz, die als “Chlorid der zweiten Base von Reiset“ in die Fachliteratur einging.1 Kurz darauf stellte der italienische Arzt Michele Peyrone (1813-1893) - der in Liebigs Laboratorium in Gießen eine Ausbildung in Chemie genoss - ein “Chlorid“ gleicher Zusammensetzung dar und erkannte, dass es zu “Reisets Chlorid“ isomer war.2a,b,c Über die Konstitution dieser Verbindungen wurde lange gerätselt. Kein geringerer als Alfred Werner fand schließlich im Frühjahr 1893 die Antwort. In seinem berühmten Aufsatz “Beitrag zur Konstitution anorganischer Verbindungen“ beschrieb er die beiden Substanzen als cis-/trans-Isomere eines planar gebauten Komplexes, der nicht dissoziiert ist.10 Es handelt sich somit nicht um Chloride im eigentlichen Sinne der Bezeichnung.
Die frühen Synthesen von Reisets und Peyrones “Chlorid“ waren durch schlechte Ausbeuten und das Auftreten zahlreicher Nebenprodukte gekennzeichnet. Das begann schon bei der im ersten Schritt notwendigen Reduktion des Platins(IV) zum Platin(II). Diese wurde zunächst mit Schwefeldioxid durchgeführt und war schlecht zu steuern. Die erste saubere Darstellung mit guter Ausbeute gelang Maurice Vézes (1864-1935) als er Kaliumhexachloroplatinat(IV) mit Hilfe von Kaliumoxalat glatt zum Tetrachloroplatinat(II) reduzierte.7 Später arbeitete der dänische Chemiker S.M Jørgensen in seiner für ihn typischen, streng stöchiometrischen Denkweise die im Wesentlichen heute noch angewandte Darstellungsmethode der Komplexe aus,3 die dann unter Einbeziehung der Arbeiten von Vézes auch von seinen Landsleuten Biilmann und Andersen beschrieben wurde.4
Die Synthese der beiden Isomere bedient sich des sogenannten Trans-Effektes: bestimmte Liganden in einem Komplex dirigieren eintretende Substituenten bevorzugt in trans-Stellung. Die hier dokumentierten Versuche basieren auf der berühmten Syntheseanleitung von Kauffmann und Cowan von 1963.6 Allerdings wird in Anlehnung an Biilmann, Andersen und Vézes als Ausgangssubstanz Ammoniumhexachloroplatinat(IV) und als Reduktionsmittel Ammoniumoxalat (anstelle von Hydraziniumchlorid) verwendet. Den Ausgangsstoff hatte ich bei der Aufarbeitung von Dentallegierungen erhalten und er war vermutlich nicht ganz rein. Deshalb ist dieser Artikel im Stil einer Versuchsbeschreibung - und nicht einer Syntheseanleitung - verfasst.
Material/Geräte:
Wasserbad auf Magnetheizrührer, 100 ml-Rundkolben, durchbohrter Stopfen mit Steigrohr, Gärröhrchen, Geräte zur Saugfiltration, 250 ml-Zweihals-Rundkolben mit kleinem Tropftrichter, Destillationsapparatur, Stativmaterial, Gasbrenner, Analysenwage, 250 ml-Becherglas, Messpipette 5 ml, Tropfpipetten, Lackmuspapier, Reagenzgläser, Kühlschrank
Chemikalien:
Ammoniumhexachloroplatinat(IV) (Platinsalmiak)



Ammoniumoxalat-Monohydrat

Bariumhydroxidlösung (Barytwasser)


Ammoniumchlorid

Ammoniaklösung 25 % und 5 N



Salzsäure 20 % und konzentrierte


Ethanol 96 %


Ammoniumchlorid

Thioharnstoff



cis-Diammindichloroplatin



trans-Diammindichloroplatin



Sicherheitshinweis:
Das cis-Diammindichloroplatin (Cisplatin) ist ein erwiesenes Karzinogen, und auch die anderen Platinverbindungen stehen im Verdacht, kanzerogen zu wirken!
Versuchsdurchführung:
1. Reduktion von Hexachloroplatinat(IV) zu Tetrachloroplatinat(II)
In einem 100 ml-Erlenmeyerkolben, der als Rückflusskühler mit einem einfachen, ca. 40 cm langen Steigrohr versehen wurde, wurden 4445 mg (10,1 mmol) Ammoniumhexachloroplatinat(IV) und 1495 mg (10,5 mmol) Ammoniumoxalat-monohydrat mit 35 ml Wasser übergossen und unter beständigem Rühren in einem lebhaft siedenden Wasserbad erhitzt. Die anfangs rein gelbe Aufschwemmung verfärbte sich nach etwa einer halben Stunde zunehmend dunkel-rotbraun wobei sich beim Abstellen des Rührers noch immer reichlich ungelöstes Edukt als gelbes Pulver absetzte. Eine ganz schwache Gasentwicklung wurde sichtbar und mit einem kurzzeitig aufgesetzten Gärröhrchen, das mit ein wenig Barytwasser beschickt war, wurde die Entwicklung von Kohlendioxid nachgewiesen. Das Erhitzen wurde für insgesamt 6½ Stunden fortgesetzt. Zuletzt war nur noch ein minimaler Rest gelbes Pulver ungelöst, und das Barytwasser trübte sich erst nach längerer Zeit etwas ein. Der Versuch wurde abgebrochen, die heiße Mischung über eine 3G-Fritte abgesaugt und mit 5 ml heißem Wasser nachgewaschen. Der Rückstand auf der Fritte war so gering, dass er sich nicht herauskratzen ließ. Es wurden 35 ml einer klaren, dunkelroten Lösung von Ammoniumtetrachloroplatinat(II) erhalten.
2. cis-Diammindichloroplatin (II)
In der abgekühlten, dunkelroten Lösung wurde 1 g Ammoniumchlorid (18,7 mmol) gelöst und dann zunächst tropfenweise 5 M Ammoniaklösung zugegeben, bis die Flüssigkeit beim Tüpfeln Lackmuspapier nicht mehr rötete (ca. 10 Tropfen). Bereits dabei trat eine Trübung auf. Die Mischung wurde dann in Eiswasser stark abgekühlt und unter gutem Rühren 4,00 ml einer genau 5 N Ammoniaklösung (20 mmol) zugegeben, wobei ein graubrauner Niederschlag ausfiel, und für 48 Stunden in den Kühlschrank gestellt. Danach wurde über eine kleine Nutsche abgesaugt, der Rückstand mit ca. 25 ml kaltem Wasser nachgewaschen und gut abgesaugt. Das Filtrat wurde asserviert (Mutterlauge A).
Das erhaltene, missfarbig grau-braunrote Reaktionsprodukt, dem einzelne gelbe Körnchen beigemengt erschienen, wurde noch feucht in einem 250 ml Becherglas in 100 ml siedender 0,1 N Salzsäure suspendiert und portionsweise weiter Lösungsmittel in der Siedehitze zugefügt. Als bei einem Gesamtvolumen von 160 ml der Eindruck entstand, dass keine weiter Lösung zu beobachten war, wurde rasch über eine vorgewärmte Nutsche abgesaugt. Auf dem Filter verblieb ein geringer, grauschwarzer Rückstand, während im Filtrat sofort ein gelber Niederschlag ausfiel. Nach Kühlung in Eiswasser für zwei Stunden wurde erneut abgesaugt und ein gelbes Pulver mit leichtem Graustich erhalten, das mit 10 ml kaltem Wasser gewaschen und getrocknet wurde. Das goldgelbe Filtrat wurde erneut asserviert (Mutterlauge B). Die Ausbeute betrug 1640 mg (56 % vom Ammmoniumhexachloroplatinat(IV)). In 1 ml Dimethylformamid lösten sich 3 mg des Produktes unter Hinterlassen einer schwachen Trübung.
Da die Substanz offenbar noch nicht rein war, wurde erneut aus siedender 0,1 N HCl umkristallisiert, wobei mit 70 ml begonnen und bei 82 ml eine fast ganz klare Lösung erhalten wurde. Beim Absaugen blieb erneut ein ganz schwacher grauer Rückstand auf dem Filter, aus dem Filtrat kristallisierte jetzt ein goldgelbes Produkt, das mit wenig Wasser, dann 20 ml Ethanol 96 % und 5 ml Ether gewaschen und unter Lichtausschluss getrocknet wurde. Auch dieses, nur blass gelbe, Filtrat (ohne das Wasch-Ethanol) wurde asserviert (Mutterlauge C).
Ausbeute: 1485 mg (knapp 50 %) dunkelgelbes Pulver. Die Lösung von 3 mg in 1 ml Dimethylformamid war blassgelb und ganz klar.
Analyse: In einem tarierten Tiegel wurden 100,5 mg des Präparates im Freien über der Flamme des Gasbrenners geglüht, wobei eine geringe Menge weißer Rauch entwich und ein feines grauschwarzes Pulver zurückblieb. Nach dem Erkalten im Exsikkator wurde die Masse des erhaltenen Platinschwammes zu 65,1 mg bestimmt. Das entspricht einem Platingehalt von 64,8 %. Der stöchiometrische Wert für [Pt(NH3)2Cl2] beträgt 65,0 %, somit hätte mein Präparat einen Gehalt von 99,7 % (Abwesenheit anderer Metallkomplexe angenommen).
3. trans-Diammindichloroplatin(II)
In einem 250 ml-Zweihalskolben mit angeschlossener Destillierbrücke wurden die oben erhaltenen Mutterlaugen über offener Flamme eingeengt, und zwar zuerst die Anteile C und B, wobei über einen Tropftrichter immer wieder Portionen von 30 ml zugegeben wurden. Der Rückstand im Kolben blieb zunächst völlig klar. Nach Zugabe der ersten Portion der Mutterlauge A trübte er sich ein, und es bildete sich ein grauer Niederschlag. Nachdem die gesamten Flüssigkeiten auf ca. 35-40 ml eingeengt waren, wurde erkalten gelassen. Unter einer hell-goldgelben Flüssigkeit setzte sich ein wenig eines flockigen weißgrauen und darunter ein schwerer dunkelgrauer Bodensatz ab.
Die Mischung wurde dann erneut zum Sieden erhitzt und (in Portionen von 1 ml) insgesamt 7 ml 12,5 N Ammoniaklösung (ca. 22,5 %) zugegeben. Davon wurden 2 ml mit 2 ml Wasser verdünnt benutzt, um die Fritte mit dem gelben Rückstand aus Versuch 1. auszuwaschen (derselbe löste sich zwar nicht, aber ein wenig ließ sich suspendieren), und zur Reaktionsmischung in den Kolben gegeben. Bei anhaltendem Sieden löste sich der Bodensatz nahezu vollständig und es bildete sich eine nur minimal trübe, goldgelbe Lösung. Als diese abgekühlt wurde färbte sie sich grün und trübte sich, worauf erneut aufgekocht wurde. Wieder wurde eine klare, gelbe Lösung erhalten, in der einzelne, dunkelgrüne Körnchen schwammen, die sich allmählich auflösten. Es wurde bis auf einen Rest von ca. 15 ml eingekocht. Nun blieb die Lösung auch nach dem Abkühlen klar und gelb.
Nun wurde - noch immer in der gleichen Apparatur - über den Tropftrichter portionsweise 6 N Salzsäure (20 %) zugegeben, zum Sieden erhitzt und in dem Maße, wie die Säure abdestillierte insgesamt 200 ml davon nachgetropft. Schon nach Zugabe der ersten Portion verfärbte sich die Reaktionsmischung rotbraun und trübte sich, in Siedepausen wurde ein geringer braunroter, körniger Niederschlag erkennbar, der sich rasch absetzte. Gegen Ende dieses Schrittes nahm die Menge des Niederschlags augenscheinlich ab und es trat zusätzlich eine hell-gelbgraue Trübung auf. Als noch etwa 30 ml übrig waren, begann die Mischung zu stoßen und wurde erkalten gelassen. Dabei bildetet sich ein beigegrauer Brei, der nach viertelstündigem Stehen in Eiswasser mit etwas 6 N Salzsäure aus dem Kolben gespült, abgesaugt, mit wenig Ethanol 96 % gewaschen und getrocknet wurde. Erhalten wurde ein schmutzig hell-beigebraunes, offenbar inhomogenes Pulver. Eine kleine Probe entwickelte beim Übergießen mit Natronlauge reichlich Ammoniak, so dass davon auszugehen war, dass der Rückstand überwiegend aus Ammoniumchlorid bestand. Er wurde daher nicht gewogen, sondern in der Siedehitze aus 0,1 N Salzsäure umkristallisiert. Mit im Ganzen 80 ml Lösungsmittel entstand eine klare Lösung, die über eine vorgewärmte Nutsche heiß abgesaugt wurde. Hier bliebt eine kleine Menge des beobachteten dunkelbraunen, unlöslichen Nebenproduktes auf dem Filter (einige Krümel hatten sich zudem am Boden des Becherglases abgesetzt, was auf ein hohes spezifisches Gesicht hinweist) und im Filtrat fiel ein blassgelbes Pulver aus. Nach Kaltstellen in Eiswasser für 1 Stunde wurde abgesaugt und dann mit wenig kalten Wasser sowie 96%igem Ethanol gewaschen.
Ausbeute: 600 mg (20 %) blassgelbes Pulver, von dem sich 3 mg in 1 ml Dimethylformamid klar lösen.
Wegen der geringen Menge wurde auf eine Platinbestimmung verzichtet.
Die Mutterlauge der ersten Kristallisation wurde erneut mit 50 ml 6 N Salzsäure eingedampft und der breiige Rückstand auf dem Filter mit 0,1 N HCl gewaschen, wobei er sich fast ganz auflöste und nur eine Spur eines blassgelben Pulvers hinterblieb. Dieses, sowie die Mutterlaugen und Waschwässer, wurde als Platinabfall aufbewahrt.
4. Unterscheidung der Isomere
In einem Reagenzglas wurden je 25 mg der Präparate mit 1 ml Wasser und 40 mg Thioharnstoff (Überschuss! Molverhältnis ca. 1 : 6,5) versetzt und kurz erhitzt. Nach dem Auflösen wurde mit Wasser auf 3 ml verdünnt, abgekühlt und 0,5 ml konz. Salzsäure zugegeben.
Das cis-Diammindichloroplatin(II) löste sich rasch zu einer tiefroten Lösung. Nach Zusatz von Salzsäure trübte sich die Flüssigkeit und es fiel ein flockiger, sich sehr langsam absetzender, roter Niederschlag aus. Nach dem Stehen über Nacht hatte sich dieser in makroskopisch erkennbare, schwere, rote Kristalle umgewandelt, die unter dem Mikroskop eine federartige Form aufwiesen.
Mit trans-Diammindichloroplatin(II) entstand eine gelbe Lösung, aus der Salzsäure einen schweren, sich rasch absetzenden, weißen Niederschlag fällte, der sich unter dem Mikroskop als aus kleinsten, farblosen Nadeln bestehend zeigte.
Anhang: Aufarbeitung der Abfälle
Die gesammelten Mutterlaugen wurden in einem 100 ml-Kolben mit der auch im 3. Teil verwendeten Destillationsapparatur zur Trockene eingedampft und dann unter Durchleiten von Luft durch die Apparatur mit dem Gasbrenner ohne Drahtnetz stark erhitzt, bis ein homogen schwarzer Platinschwamm erhalten wurde. Dieser und der bei der Platingehaltsbestimmung des Präparates 2 erhaltene Platinschwamm wurde mit Wasser aufgeschlämmt, absitzen gelassen, gewaschen und mit 5 ml Königswasser in Lösung gebracht, was ziemlich schnell ging. Die Lösung wurde abgedampft, dreimal mit je 3 ml konz Salzsäure abgeraucht, mit Wasser auf 30 ml verdünnt und unter Durchleiten von Luft ½ Stunde am Sieden erhalten. Danach wurde auf 20 ml verdünnt und in einem Zylinder absitzen gelassen. Nach 6 Stunden wurde von einem geringen schwarzen Bodensatz abgegossen, und aus dem klaren goldgelben Überstand das Platin mit Ammoniumchlorid ausgefällt (1 g auf 25 ml Gesamtvolumen). Dieses wurde abgesaugt, mit etwas 5%iger Ammoniumchloridlösung, wenig kaltem Wasser und zuletzt mit Ethanol gewaschen und getrocknet.
Es wurden 600 mg Ammoniumhexachloroplatinat(IV) zurückgewonnen (13,5%)
Entsorgung:
Die Mutterlaugen, Waschwässer und Filterrückstände wurden als Platinabfall gesondert gesammelt um recycelt zu werden. Auch die Präparate werden gegebenenfalls wiederverwertet (zu Platinschwamm verglüht) oder dem Schwermetallabfall zugeführt. Die abdestillierten Ammoniak- und Salzsäure-haltigen Flüssigkeiten werden neutralisiert und ins Abwasser gegeben.
Erklärungen:
Zunächst wurde das schwer lösliche Ammoniumhexachloroplatinat(IV) durch Kochen mit dem entsprechenden Oxalat zum Tetrachloroplatinat(II) reduziert, das im Gegensatz zum Ausgangsstoff dunkelrot gefärbt und relativ gut wasserlöslich ist. Die Oxalsäure wird dabei zu Kohlendioxid oxidiert:
(NH4)2[PtCl6] + (NH4) 2C2O4 ---> 2 NH4Cl + 2 CO2 + (NH4)2[PtCl4]
Molmasse (NH4)2[PtCl6] = 443,9 g/mol
Molmasse (NH4) 2C2O4 + H2O = 142,1 g/mol
Laut Biilmann und Andersen4 soll dabei ein geringer Überschuss von Ammoniumoxalat angewandt werden (was ich gemacht habe), wohingegen Kauffmann und Cowan6, die mit Hydraziniumchlorid reduzierten, einen leichten Unterschuss verwenden, um eine Reduktion zu metallischem Platin zu verhindern.
Gibt man zu der erhaltenen Lösung von Tetrachloroplatinat eine stöchiometrische Menge von 2 mol Ammoniak pro mol Platinkomplex, so werden zwei Chloridliganden durch Ammoniakmoleküle ersetzt. Da das Chlorid einen starken Trans-Effekt ausübt, tritt das zweite Ammoniakmolekül in trans-Stellung zu einem der verbleibenden Chloridionen ein und es ensteht cis-Diammindichloroplatin(II).
(NH4)2[PtCl4] + 2 NH3 ---> 2 NH4Cl + cis-[Pt(NH3)2Cl2]
Der Zusatz von Ammoniumchlorid dient dazu, die Konzentration an OH--Ionen möglichst niedrig zu halten, um die Bildung von Hydroxidokomplexen zu verhindern. In der Literatur wird ein Verhältnis von 5 Mol NH4Cl pro Mol Tetrachloroplatinat empfohlen.5 In meinem Versuch betrug das Verhältnis ca. 4:1 (bei der Reduktion mit Ammoniumoxalat waren bereits 20 mmol NH4Cl entstanden). Die Reaktion soll in der Kälte ausgeführt werden (es wird Abkühlen auf und Stehenlassen bei 0 °C empfohlen), um die Bildung von Tetraaminplatin(II)-chlorid zu verhindern, welches zusammen mit Tetrachloroplatinat(II) als schwerlösliches, grünes Magnus’sches Salz ([Pt(NH3)4][PtCl4]) ausfallen würde.
Die Mutterlauge, die neben nicht ausgefälltem Produkt noch andere Platin(II)-Verbindungen enthalten haben dürfte, wurde dann mit Ammoniak im Überschuss gekocht, um den Tetraamminplatin(II)-Komplex zu erhalten:
[Pt(NH3)2Cl2] + 2 NH3 ---> [Pt(NH3)4]Cl2
Bei meinem Versuch zeigte sich nach dem ersten Erhitzen, dass noch ein wenig Tetrachloroplatinat(II) übrig war - so erklärt sich die Abscheidung von grünem Magnus’schem Salz beim Abkühlen. Durch erneutes Erhitzen mit Ammoniak ging dieses aber offenbar komplett als Tetraamminplatin(II)-chlorid in Lösung.
Das Ammoniak im Komplex durch Chlorid zu ersetzen, ist deutlich aufwändiger als umgekehrt: die Lösung muss für längere Zeit mit einem erheblichen Überschuss an Salzsäure gekocht werden. Dabei dirigiert das erste in den Komplex eintretende Chloridion das zweite aufgrund des Trans-Effektes in trans-Stellung, so dass trans-Diammindichloroplatin(II) resultiert:
[Pt(NH3)4]Cl2 + 2 HCl ---> 2 NH4Cl + trans-[Pt(NH3)2Cl2]
In meinen Versuchen habe ich von den Literaturangaben deutlich abweichende Farbänderungen und Ergebnisse beobachtet. So beschreiben sowohl Kauffmann und Cowan6 als auch Biilmann und Andersen4 die Rohfällung des cis-Komplexes als gelbgrün gefärbt und das Hauptmotiv der Umkristallisation ist die Abtrennung von etwas parallel gebildetem Magnus’schem Salz. Bei mir entstand ein so schmutzigbraunes Rohprodukt (siehe Bild!), dass ich zunächst ein völliges Mißlingen des Versuchs befürchtete. Die Verfärbung, sowie die grauen, unlöslichen Nebenprodukte sind vermutlich darauf zurückzuführen, dass das Ausgangsmaterial nicht rein war und wohl doch einen gewissen Anteil Palladium, vielleicht auch Rhodium (oder gar Reste von Gold) enthalten haben dürfte. Außerdem könnten sich durch den leichten Überschuss an Oxalat Oxalatokomplexe gebildet haben und ein kleiner Teil des Platins zum Metall reduziert wurden sein. Warum die im dritten Teil der Versuche erzeugte Tetraamminplatin(II)-Lösung goldgelb gefärbt war (sie sollte eigentlich fast farblos sein6) und sich auf Säurezusatz rotbraun färbte, sowie die Natur des gebildeten, braunen unlöslichen Rückstandes, ist mir unklar. Die Literaturausbeute beträgt für das cis-Isomere 60-70 %,4, 6, 3b S. 180 für die trans-Verbindung 90 %.6. Ich bin mit meinen 70 % Gesamtausbeute zufrieden. Wahrscheinlich habe ich für das Umkristallisieren der rohen cis-Verbindung zu viel Salzsäure verwendet (Kauffmann und Kowan geben nach UK aus 150 ml 0,1 N HCl eine Ausbeute von 60 % an). Leider ist mir die Wiederholung der Synthesen mangels weiteren Ausgangsmaterials nicht möglich.
Beide Präparate sind undissoziierte Komplexe und daher typischerweise schlecht wasserlöslich (vergleiche auch das Verhalten der undissoziierten Kobaltkomplexe !). Der große Löslichkeitsunterschied in der Hitze erleichtert das Umkristallisieren und die Abtrennung von eventuell entstehenden Nebenprodukten erheblich. Salzsäure wird als Lösungsmittel anstelle von Wasser gewählt, weil in letzterem leicht Hydrolyse zum Diammin-aquochloro- oder Diammin-diaquokomplex stattfindet, insbesondere bei der cis-Form.
cis-Diammindichloroplatin(II) stellt ein dunkelgelbes Pulver dar, das sich bei 25 °C zu 2,54 g,6, bei Siedehitze (nach meinem Versuch) zu ca. 20 g in 1000 ml Wasser löst. In der Lösung findet langsam eine Umlagerung in das trans-Isomer statt. Das trans-Diammindichloroplatin(II) ist deutlich heller gelb gefärbt und seine Löslichkeit ist noch geringer, nämlich nur 0,36 g in 1 Liter Wasser (bei 25 °C).6 Die Substanzen sind in praktisch allen organischen Lösungsmitteln (probiert habe ich Ethanol, Methanol, Chloroform Ethylacetat und Aceton) unlöslich - mit Ausnahme von Dimethylformamid, in dem sie wenig löslich sind. In wässriger Lösung hydrolysieren sie langsam.
Die unterschiedliche Reaktion der Isomere mit Thioharnstoff wurde zuerst 1893 (in deutscher Sprache 1894)8 von Kurnakow beschrieben. Aus dem cis-Isomeren entsteht dabei tetrakis-Thioharnstoffplatin(II)-chlorid. Der Thioharnstoff übt einen kräftigen Trans-Effekt aus, so dass alle Koordinationsstellen des Platins besetzt werden. Im trans-Isomer werden dagegen nur die beiden Chloridionen ersetzt, so dass trans-Diammindithioharnstoffplatin(II)-chlorid resultiert (vergleiche auch das Verhalten von cis- und trans-Tetraammindinitrokobalt(III)-chlorid gegen Salzsäure).
cis-[Pt(NH3)2Cl2] + 4 CSN2H4 ---> [Pt(CSN2H4)4]Cl2 + 2 NH3
trans-[Pt(NH3)2Cl2] + 2 CSN2H4 ---> trans-[Pt(NH3)2(CSN2H4)2] Cl2
Die Produkte werden durch gleichionigen Zusatz (Salzsäure) aus ihren Lösungen gefällt. Den Diammindithioharnstoffkomplex habe ich in Übereinstimmung mit der Literatur in Form farbloser Nadeln erhalten. Die Farbe des tetrakis-Thioharnstoffplatin(II)-chlorids gibt Kurnakow jedoch mit Gelb an, während ich einen roten Niederschlag erhielt. Da an der Reinheit meines Präparats eigentlich kein Zweifel besteht, sind hierfür vermutlich Nebenreaktionen verantwortlich zu machen.
Das Europäische Arzneibuch gibt eine DC-Methode zur Identifizierung von Cisplatin mit Dimethylformamid+Aceton= 9+1 als Laufmittel auf Celluloseplatten an. Ich habe damit kein brauchbares Resultat erhalten, denn die Rf-Werte beider Isomere waren bei mehreren Anläufen unter leicht variierten Bedingungen immer 1,0. Andere Literaturstellen berichten über andere System (Chloroform+Methanol = 5+5 und Ethylacetat+Chloroform = 1+4 auf Kieselgelplatten), mit denen ich durchgehend einen RF von 0,0 erhielt. Auch Kauffmann berichtet in seinem Artikel von 1988,11 dass es ihm - im Gegensatz zu anderen nichtionischen Platinkomplexen - nicht gelungen sei, die Isomere des Diammindicholoroplatin(II) mittels DC zu trennen.
Nachwort:
Neben der Rolle, die die Platinkomplexe bei der Formulierung von Werners Koordinationstheorie gespielt haben - es handelt sich um die erste Beschreibung eines planaren Komplexes mit der Koordinationszahl vier10 - haben sie noch auf einem ganz anderen Feld Bedeutung erlangt. Im Jahre 1964, einhundertzwanzig Jahre nach Peyrones Darstellung des cis-Diammindichloroplatins(II), entdeckten Forscher an der Universität von Michigan bei mikrobiologischen Experimenten zufällig, dass die Substanz zytostatische, die Zellteilung hemmende, Eigenschaften besitzt (die spannende Geschichte darüber ist in der Publikation von Rosenberg et al. nachzulesen9). Das “Peyrone’sche Salz“ erwies sich dann in Tierversuchen als wirksam gegen eine Reihe von experimentellen Tumorerkrankungen, und 1978 wurde es unter der INN-Bezeichnung Cisplatin als Medikament zugelassen.10 Die Wirkung beruht, wie bei den alkylierenden Zytostatika (Chlormethin, Cyclofosfamid, Busulfan etc.), auf einem crosslinking zwischen Purinbasen der DNA, wodurch die Zellteilung unterbrochen wird.
Cisplatin wird heute noch eingesetzt und hat die Behandlung mancher Tumorarten, vor allem von Ovarialkarzinomen oder Hodentumoren, die auch in fortgeschrittenen Stadien noch geheilt werden können, revolutioniert. Typische Dosen liegen bei 50 - 100 mg/m2 Körperoberfläche, die alle 3-4 Wochen intravenös verabreicht werden. Unter den nicht unerheblichen Nebenwirkungen ist die Toxizität auf die Niere vom chemischen Standpunkt aus interessant. Normalerweise enthält der Urin – durch Rückresorptionsvorgänge in der Niere – eine deutlich niedrigere Konzentration an Chloridionen als das Blutplasma, was dazu führt, dass das ausgeschiedene Cisplatin hydrolysiert:
[Pt(NH3)2Cl2] + 2 H2O <---> [Pt(NH3)2(H2O)2]2+ + 2 Cl-
Das dabei gebildete Diammindiaquoplatin(II)-Kation ist wesentlich nephrotoxischer als das ursprüngliche Cisplatin. Um diese Toxizität zu minimieren werden, parallel zur Cisplatingabe, mehrere Liter physiologische (0,9 g/L) Kochsalzlösung intravenös infundiert. Dadurch erreicht man - außer einem hohen Flüssigkeitsdurchsatz in den Nieren - eine höhere Chloridkonzentration im Primärharn (Glomerulumfiltrat), so dass das Hydrolysegleichgewicht nach links verschoben wird.
In den achtziger Jahren wurden mit Carboplatin und Oxaliplatin zwei Derivate des Cisplatins in die Therapie eingeführt, die andere Liganden enthalten. Diese Substanzen sind deutlich weniger toxisch als das ursprüngliche cis-Diammindichloroplatin(II) und erzeugen auch weniger Übelkeit (Cisplatin ist eines der emetogensten Chemotherapeutika überhaupt).
Dank der Aufmerksamkeit, die dem Cisplatin zuteilwurde, war die Syntheseanleitung von Kauffmann und Cowan im Jahre 1988 einer der meistzitierten Artikel aus den Inorganic Synthesis.11 Die Geschichte, die mit der Arbeit des Doktor Peyrone in Gießen begann, illustriert, dass chemische Grundlagenforschung auch mehr als hundert Jahre später noch ungeahnt fruchtbar sein kann!
Literatur:
1. Jules Reiset: Mémoire sur les combinaisons de deux nouvelles bases alcalines contenant du platine; Annales de chimie et physique, 3eme serie Tome 11 (1844): 417-433
2. a) Dr. Michele Peyrone: Ueber die Einwirkung des Ammoniaks auf Platinchlorür - Justus Liebigs Annalen der Chemie und Pharmacie 51 (1844): 1-29
b) Michel [sic!] [Peyrone: De l’action del ammoniaque sur le protochlorure de platine; Annales de chimie et physique, 3eme serie Tome 12 (1844): 193-211
c) Dr. med. Peyrone [sic!]: Über einige dem grünen Magnus’schen Salze isomere Körper; Liebigs Annalen der Chemie und Pharmacie 61 (1847): 178-181
3. S. M. Jørgensen: Zur Konstitution der Platinbasen II. Mitteilung; Zeitschrift für anorganische Chemie 24 (1900): 153-182
4. Einar Biilmann u. A.C. Andersen: Ueber einige Platinverbindungen; Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 36 (1903): 1565-1571
5. Ludwig Ramberg: Einige Notizen über Platoammonikverbindugen; Zeitschrift für anorganische Chemie 83 (1913): 33-38
6. George B. Kauffmann und Dwaine O. Cowan: cis- and trans-Dichlorodiammineplatinum(II); Inorganic Synthesis Volume VII (1963): 239-245
7. Maurice Vézes: Nouveau mode de préparation du chloroplatinite de potassium; Bulletin de la Société chimique de Paris 19 (1898): 897-883
8. N. Kurnakow: Ueber complexe Metallbasen – Erste Abhandlung; Journal für Praktische Chemie 50 (1894): 481-507
9. Barnett Rosenberg et al.: Inhibition of cell division in Escherichia coli by electrolysis products of a platinum electrode - Nature 205 Vol 205 (1965):
10. Alfred Werner: Beitrag zur Konstitution anorganischer Verbindungen; Zeitschrift für anorganische Chemie 3 (1893): 267-330
11. G.B. Kauffmann: This Week’s Citation Classic; Inorganic Synthesis 1988: 20
Bilder:
Ausgangssubstanz: Ammoniumhexachloroplatinat(IV)
Reduktion mit Ammoniumoxalat, Nachweis der Kohlendioxidbildung
Farbwechsel des Ansatzes (zu Beginn und nach 6 Stunden)
Die erhaltene Lösung von Ammoniumtetrachloroplatinat(II)
Abscheidung von cis-Diammindichloroplatin(II), Absaugen des Rohproduktes
Zweite Umkristallisation von cis-Diammindichloroplatin(II), grauer Rückstand auf der Nutsche
Einengen der Mutterlaugen, Niederschlags in der eingeengten Flüssigekeit
Kochen mit Ammoniak, passagere Bildung von Magnus‘ grünem Salz
Kochen mit Salzsäure, Bildung zunächst eines braunroten Niederschlages, dann gelbgraue Trübung gegen Ende des Versuchs
Abgesaugtes Rohprodukt der Synthese von trans-Diammindichloroplatin(II), sowie des umkristallisierten Produktes
Die Präparate: oben trans- unten cis-Diammindichloroplatin(II)
Platingehaltsbestimmung in Cisplatin durch Verglühen im Tiegel
Reaktion mit Thioharnstoff: links cis-Diammindichloroplatin(II), rechts das trans-Isomere
Kristalle von trans-Diammindithioharnstoffplatin(II)-chlorid (100-fach vergrößert)
Kristalle des Reaktionsproduktes von cis-Diammindichloroplatin(II) mit Thioharnstoff (vermutlich verunreinigtes tetrakis-Thioharnstoffplatin(II)-chlorid)