cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

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mgritsch
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von mgritsch »

lemmi hat geschrieben: Samstag 8. Januar 2022, 08:48 Allemal ein intellektuell anspruchsvollerer Beweis, als eine Substanz in ein Gerät zu schieben und das Erbnis abzulesen :wink:
Also nach Verständnis der Logik - ja es ist eine durchaus geschickte Denkoperation. Aber am Ende war die Lösung nur möglich weil es eben einen trans-Effekt gibt. Und die Reaktion ist so nur an diesen speziellen Komplexen möglich, nicht verallgemeinerbar.

Hingegen ist die Erfindung eines Geräts dass das für fast jedes mögliche Molekül kann und das auf einem Grundverständnis der Physik der Moleküle und ihrer Wechselwirkungen basiert nicht nur zumindest intellektuell ebenbürtig sondern aufgrund der Verallgemeinerung auch deutlich nützlicher.

Es gibt nichts komplizierteres als Dinge einfach zu machen, und wenn man es schafft, all die Chemie und Physik in eine Box zu packen die sogar du bedienen könntest und nur noch abliest, dann ist das IMHO der Gipfel intellektueller Leistung ;)
Glaskocher
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von Glaskocher »

Die absolute Konfiguration von Molekülen läßt sich über die Röntgendiffraktometrie ermitteln. Man braucht nur einen ausreichend großen und bei komplexeren Substanzen unverzwillingten Kristall. Aus den Beugungsabbildungen kann man, mit Hilfe von Computerprogrammen und Erfahrung, die Struktur ermitteln.

Kann man eventuell aus der makroskopischen Form von Kristallen auf die Form von Molekülen schließen?
Da die Summenformeln der cis- und trans-Form identisch sind bestimmt nur die Form des Moleküls die des Kristalls (wenn keine Solvatmoleküle verbaut sind). Dann müßte man "nur" die passenden Liganden aussuchen, die diesen Effekt fördern. Ich dachte dabei an recht lange oder anderweitig raumgreifende Liganden, die als kristallisationsfördernd bekannt sind. Ich kann natürlich mit dieser Vermutung auch daneben liegen...
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lemmi
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von lemmi »

mgritsch hat geschrieben: Samstag 8. Januar 2022, 11:35 Gäbe es einen cis-Effekt dann müsste die von dir skizzierte 3er-Mischung rauskommen, bei gar keinem Effekt sogar eine 4er-Mischung.
umgekehrt: würden wir drei Produkte beobachten, müssten wir einen cis-Effekt annehmen :wink:
Bei gar keinem Effekt würde man eine 6-er Mischung erhalten (3 cis-Isomere und 3 trans-Isomere).
Aber am Ende war die Lösung nur möglich weil es eben einen trans-Effekt gibt.
Mensch! Die ganze Naturwissenschaft ist nur möglich, weil die Natur so gebaut ist, dass man ihre Abläufe in Gesetzmäßigkeiten fassen kann! Aber vor die Formulierung von Gesetzen haben die Götter Beobachtung und Induktion gesetzt. Wie sonst soll wissenschaftliche Erkenntnis möglich sein?
und wenn man es schafft, all die Chemie und Physik in eine Box zu packen die sogar du bedienen könntest und nur noch abliest, dann ist das IMHO der Gipfel intellektueller Leistung
Da bin ich nicht ganz bei dir.
Erstens ist es eine intellektuelle Leistung allenfalls für den, der die Box entwirft. Der, der sie bedient muss schlimmstenfalls nur wissen, in welcher Reihenfolge man die Knöpfe drückt.
Zweitens hat Werner etwas völlig neues gedacht! Und zwar zu einer Zeit, als alle etwas anderes dachten. Das finde ich bewundernswert. Der Ingenieur, der aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ein Analysengerät zusammenbaut, löst vielleicht ebenfalls kreativ technische Probleme. Aber er bricht keine wissenschaftliche Revolution vom Zaun (frei nach Kuhn :) ).

@Glaskocher: Werner hat schon früh (schon Ende der 1890er) die Chiralität von Komplexen postuliert und zunächst versucht, so wie weiland der gute Pasteur, diese anhand unterschiedlicher Kristallformen anchzuweisen. Das hat aber nicht geklappt, da die Kristalle zu ähnlich waren. Erst durch die Trennung von Diastereomeren Salzen ist es ihm (bzw. King) gelungen, seine Prognose zu bestätigen.
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mgritsch
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von mgritsch »

lemmi hat geschrieben: Samstag 8. Januar 2022, 12:22 Mensch! Die ganze Naturwissenschaft ist nur möglich, weil die Natur so gebaut ist, dass man ihre Abläufe in Gesetzmäßigkeiten fassen kann!
Ich meinte damit eher dass die Methode zur Strukturaufklärung nicht verallgemeinerbar ist. Das geht nur an Komplexen bzw. bei Anwesenheit von Liganden mit so einem Effekt. Sie dürfte damit vermutlich keine längerfristige Bedeutung über das spezielle Problem hinaus gehabt haben.
Erstens ist es eine intellektuelle Leistung allenfalls für den, der die Box entwirft. Der, der sie bedient muss schlimmstenfalls nur wissen, in welcher Reihenfolge man die Knöpfe drückt.
Genauso wie es nur für Werner eine geistige Leistung war die Methode mit Py/Cl zu entdecken und zu interpretieren. :P Kein Unterschied. Einer ist immer der erste, alle anderen müssen nur noch nachmachen.

Abgesehen davon muss ich dich enttäuschen - Knöpfchen drücken und fertig ist nur in den bereits über Spektrenbibliothek bekannten, somit nicht mehr neuen Fällen. Versuch mal ein NMR einer unbekannten Substanz zu interpretieren, das kann deutlich herausfordernder sein als das kleine "Sonntagsbeilage-Rätsel" mit dem cis/trans.
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von Calciumcitrat »

Und spätestens am Röntgendiffraktometer gilt es das Züchten von Kristallen, die Interpretation der Rohdaten, das Lösen mit direkten Methoden und das Refinen sehr gut zu beherrschen, gerade wenn Twinning, Disorder oder uneindeutige Raumgruppen Probleme bereiten...
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mgritsch
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von mgritsch »

Jup. :thumbsup:
Ich sage mal im Vergleich zu vor 100 Jahren haben wir heute viel mehr Möglichkeiten aber auch neue Herausforderungen, die man ohne diese Möglichkeiten gar nicht bewältigen könnte, egal wie brilliant der Kopf sein mag. Die Herausforderungen sind nicht weniger, nur andere.
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lemmi
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Re: cis- und trans-Diammindichiloroplatin(II)

Beitrag von lemmi »

Ich habe en Eindruck, wir reden aneinander vorbei.

Ein brillianter Kopf sein und ausgeklügelte Apparaturen zu gebrauchen ist ja kein Widerspruch. Das heißt, der Apparat erspart es einem, jedes mal von neuem Überlegungen (gar ständig die gleichen) anzustellen, wie man die Struktur experimentell herleiten kann, nachdem die Prinzipien der Strukturtheorie einmal erkannt und die Methode ausgearbeitet ist, und das ist unzweifelhaft äußerst nützlich. Es wäre absurd jedesmal wieder wie Werner Experimente mit Papier und Bleistift zu interpretieren. So verstehe ich das was mgritsch schreibt: “einer ist immer der erste“ - Kuhn nennt das den Paradigmenwechsel - “und die anderen müssen nur noch nachmachen“ - das heißt bei Kuhn “Normalwissenschaft“.

Was ich hervorheben will ist die schöpferische geistige Leistung von Werner, der Paradigmenwechsel. Er hat gar nicht die experimentelle Methode zur Strukturaufklärung entwickelt, sondern er hat die zündende Idee gehabt, die zu einer ganz neuen Theorie führte, nämlich dass man den Aufbau der Verbindungen unabhängig von der Valenz der Zentralatome bestimmen kann und muss - und dass diese Theorie viel besser zu den schon bekannten Daten passt, als die bisherige zu seiner Zeit (in der waren nur zwei Bindungen am Platin und an jeder hingen ein Ammoniak und ein Chlorid, oder eben an einer zwei Ammoniak und ein Chlorid und an der anderen nur ein Chlorid). Das ist zwanglos mit der Kopernikanischen Wende vergleichbar: ein altes Weltbild wird gestürzt und durch ein stimmigeres ersetzt.

Die Geräte, die wir heute zur Konfigurationsbestimmung nutzen, bauen darauf auf. Man könnte sagen, sie machen Normalwissenschaft. Ich habe großen Respekt vor der Arbeit die darin steckt, sie zu entwerfen und zu bauen. Aber die Epoche der wissenschaftlichen Revolution finde ich spannender.

@mgritsch: wo konkret siehst du heute eine wissenschaftliche Herausforderung, die vielleicht einen Paradigmenwechsel erfordert?
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mgritsch
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Re: cis- und trans-Diammindichiloroplatin(II)

Beitrag von mgritsch »

lemmi hat geschrieben: Montag 10. Januar 2022, 22:20 Ich habe den Eindruck, wir reden aneinander vorbei.
ja das war offensichtlich so, ich bezog mich immer nur auf das vorliegende Detailproblem mit der Py-Methode zur Strukturaufklärung (absolute Konfiguration). Dass ein grundlegend neues Verständnis der koordinativen Bindung ein anderes Kaliber ist als "Sonntagsbeilagerätsel" ist völlig unstrittig, dafür hat er ja zurecht den Nobelpreis ausgefasst.
Die Geräte, die wir heute zur Konfigurationsbestimmung nutzen, bauen darauf auf. Man könnte sagen, sie machen Normalwissenschaft.
Da bin ich anderer Ansicht. Das sind einfach zwei völlig andere Disziplinen!
Zum einen die Strukturchemie Werners die sich mit dem Aufbau und den Bindungsverhältnissen der Moleküle befasst.
Zum anderen die physikalische bzw theoretische Chemie die sich mit dem inneren Aufbau und der Wechselwirkung von Materie mit Strahlung im weitesten Sinne (Radio, Röntgen, Elektronen,...) und Magnetfeldern befasst. Darin stecken genauso fundamentale Erkenntnisse und die erhaltenen Signale sind im Sinne der Strukturchemie interpretierbar. Sie bauen aber kein bisschen darauf auf. Nicht zu unrecht erhielt zB Max Laue für Röntgenbeugung 1914 den Nobelpreis! Detto Richard Ernst 1991 für die Kernresonanzspektroskopie! Vielleicht sind diese Medaillen geeignet dein Bild von der Geistesleistung späterer "Knöpfchendrücker"-Generationen ein wenig aufzuhellen ;)

Dein Spruch "Wer nur Chemie versteht, versteht auch die nicht recht!" (G.C. Lichtenberg, 1742 - 1799) hat somit gerade im heutigen Licht des Zusammenwachsens von Physik und Chemie eine ungeahnt tiefe Bedeutung 8) :D
@mgritsch: wo konkret siehst du heute eine wissenschaftliche Herausforderung, die vielleicht einen Paradigmenwechsel erfordert?
Die Antwort überlasse ich gerne Jahr für Jahr dem Nobelpreis-Komittee :)
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von aliquis »

Wollte schon sagen: um diese Frage zu beantworten, brauchte man vermutlich eine Glaskugel - und hätte danach ausgesorgt... 8)
Eine erste Idee, wonach ich schauen würde, hätte ich dann schon: Fusionsreaktortechnik, die effektiv deutlich mehr Energie liefert, als sie verbraucht - damit wären gleich zwei miteinander verbundene Hauptprobleme der Menschheit auf einmal gelöst: unser Energiehunger und der Klimawandel...
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lemmi
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von lemmi »

Ich würde als ersten Kandidaten das Elementarteilchensystem der Physik ausmachen. Das schreit meiner Meinung nach geradezu nach einer neuen Interpretation.
f. Nicht zu unrecht erhielt zB Max Laue für Röntgenbeugung 1914 den Nobelpreis! Detto Richard Ernst 1991 für die Kernresonanzspektroskopie! Vielleicht sind diese Medaillen geeignet dein Bild von der Geistesleistung späterer "Knöpfchendrücker"-Generationen ein wenig aufzuhellen ;)
Ich habe mich wahrscheinlich missverständlich ausgedrückt. Unter Köpfchendrückern wollte ich, nicht diejenigen verstehen, die diese Phänomene entdeckt und wissenschaftlich nutzbar gemacht haben. Sondern ich wollte eine neue Idee, Werners Strukturtheorie (eine Wissenschaftliche Revolution) kontrastieren zu der Routine, ein Gerät zu benutzen, das eine schon lange etablierte Theorie fruchtbar ausnutzt (Normalwissenschaft).

Du schreibst zu recht, dass auch diese Daten zu interpretieren unter Umständen eine Kunst ist. Meine Bewunderung gilt dem revolutionär neuen von Werners Theorie. Soweit mir bekannt, hat Max v. Laue keine Grund umwälzende Revolution im Theoriegebäude der Physik ausgelöst (so wie Planck, Einstein, Heisenberg oder vielleicht auch Otto Hahn) - aber vielleicht verstehe ich seine Geschichte nicht recht, du darfst mich gerne belehren!
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mgritsch
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von mgritsch »

lemmi hat geschrieben: Dienstag 11. Januar 2022, 21:37 Meine Bewunderung gilt dem revolutionär neuen von Werners Theorie. Soweit mir bekannt, hat Max v. Laue keine Grund umwälzende Revolution im Theoriegebäude der Physik ausgelöst (so wie Planck, Einstein, Heisenberg oder vielleicht auch Otto Hahn) - aber vielleicht verstehe ich seine Geschichte nicht recht, du darfst mich gerne belehren!
vielleicht sind deine Ansprüche an "Revolutionen" etwas hoch, es kann nicht jeder gleich das ganze Grundgebäude erschüttern wie Einstein.

Nichtsdestotrotz haben die Arbeiten von Laue uns erstmals ermöglicht tatsächlich Strukturen von Kristallen, absolute Bindungslängen und Geometrien zu sehen. Ohne seine Arbeit wären auch Werners Komplexe nichts anders als hübsche, theoretisch mögliche geometrische Arrangements am Papier. Mit Laues Röntgen kann man aber tatsächlich hineinsehen, das sieht dann zB so aus: https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%B6nt ... hydrid.png oder so https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%B6nt ... on2-og.jpg

Und was ist so großartig revolutionär daran dass es eben auch Nebenvalenzen gibt und mit der Oktettregel noch nicht alles zu Ende ist? Nur eine kleine Erweiterung, ein Teilaspekt der Vielfalt chemischer Bindungen könnte man auch sagen. Werner konnte es gerade mal phänomenologisch erklären, erst mit der Orbitaltheorie haben wir wirklich verstanden was/warum da passiert. Wusste Werner eigentlich etwas über freie Elektronenpaare eines NH3, über die Orbitale und warum es eine flache trigonale Pyramide bildet und so gerne seine Komplexe aufbaut? Kann ich mir nicht vorstellen, das Elektron wurde erst 1897 entdeckt, die Elementarladung dann 1909 gemessen...

Wie auch immer - in der Wissenschaft kann jeder nur weiter blicken als seine Vorgänger weil er auf ihren Schultern sitzt, das war immer schon so. Dass diejenigen "weiter unten" in der Pyramide aber deswegen a priori "Revolutionäre" wären und die oben bloß "Normalwissenschaftler" ist eine sehr willkürliche und einseitige Zuweisung.

Ich denke auch das Bild von "einer erfindet es und die anderen machen ja nur noch nach" ist hinterfragenswert. Von einer Grundlage bis zur Anwendung bis zur Breitenanwendung sind es noch sehr, sehr viele kreative Schritte. Alles ist Evolution, nicht Revolution :) Darwinismus, nicht Kreationismus.
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lemmi
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von lemmi »

Das ist eine interessante Diskussion, die wissenschaftsphilosophisch auch schon geführt worden ist.
Zunächst ein konkretes Detail:
Und was ist so großartig revolutionär daran dass es eben auch Nebenvalenzen gibt und mit der Oktettregel noch nicht alles zu Ende ist? Nur eine kleine Erweiterung, ein Teilaspekt der Vielfalt chemischer Bindungen könnte man auch sagen. Werner konnte es gerade mal phänomenologisch erklären, erst mit der Orbitaltheorie haben wir wirklich verstanden was/warum da passiert.
Du siehst das wieder vom heuten Standpunkt aus. Ich bitte dich, dich in die Situation 1893 zu versetzen (ich leih dir gerne die Zeitmaschine, solange du das Chronol spendierst! :mrgreen: ). Damals war das kein "kleiner Teilaspekt" sondern eine fundamentale Frage und die Koordinationslehre eine bahnbrechende Therorie, die vieles danach überhaupt erst ermöglicht hat. Gerade dass man damals noch nicht wusste, dass es Elektronen gibt und wie Bindungen beschaffen sind, macht es für mich bewundernswert, dass eine richtige Idee abgeleitet wurde und zwar gegen die bis dato vorherrschende wissenschaftliche Sichtweise

Das Großartige daran ist die geistige Beweglichkeit. Alle um Werner sahen das Problem aus einer bestimmten Richtung und arbeiteten sich daran ab. Und dann erkennt er, dass sich das Problem viel besser lösen lässt, wenn man den Standpunkt wechselt. Das schaffen nicht viele Menschen - das muss man erstmal hinkriegen! Deswegen meine Frage danach, wo ihr ein Potential für eine ähnliche Strukturrevolution vermutet (Ich, wie gesagt, würde es sehr befriedigend finden, wenn es eine andere Erklärung für den Aufbau der Atome gäbe als unser derzeitiger "Teilchenzoo", wo man immer noch ein neues Teilchen postulieren musste, um das Verhalten der bisherigen zu erklären).

Dass man das damals noch nicht weiter erklären sondern zunächst nur konstatieren konnte, tut dem keinen Abbruch. Planck hat sein Wirkungsquantum auch aus purer geistiger Kreativität und empirischer Notwendigkeit eingeführt. Dass es einmal so eine zentrale Stellung im Theoriegebäude der Physik einehmen würde, hat er selbst nie gedacht.
Dass diejenigen "weiter unten" in der Pyramide aber deswegen a priori "Revolutionäre" wären und die oben bloß "Normalwissenschaftler" ist eine sehr willkürliche und einseitige Zuweisung
Das habe ich nicht gesagt und würde ich auch nicht vertreten. Wissenschaftliche Revolutionen sind zu jeder Zeit möglich.

Ich stütze mich auf die Therie von Thomas Samuel Kuhn, der die Idee des Paradigmenwechsels und der wissenschaftlichen Revolution zuerst am detailliertesten ausformuliert hat. Sein Buch ist wirklich lesenswert!
Alles ist Evolution, nicht Revolution :) Darwinismus, nicht Kreationismus.
Auch das sind zwei Begriffe (Evolution und Revolution), die sich nicht ausschließen. Nur das "alles ist" ist falsch! Es gibt beides. Sogar in der Naturgeschichte gibt es "revolutionäre Phasen" (z.B. die Kambrische Explosion in der biologischen Evolution oder die "Machtübernahme" der Säugetiere vor 80 Mio Jahren). Okay, ob man das jetzt "Revolution" nennen möchte, dabei will ich nicht verweilen. Aber in der Menschheitsgeschichte gab es die kognitive Revolution, die Agrarrevolution und schließlich - vor nicht allzu langer Zeit (nur 500 Jahre her) - die wissenschaftliche Revolution. Vorher gab es Naturwissenschaft in unserem Sinne gar nicht, von einer kontinuierlichen Evolution seit dem Anbeginn der Menschheit kann gar nicht die Rede sein!

Kuhn sagt (grob zusammengefasst) dass Wissenschaft immer wieder ein neues Forschungsprogramm aufstellt, das dann solange erfolgreich verfolgt wird ("Normalwissenschaft") bis sich Befunde ergeben, die schwierig oder gar nicht mehr mit den alten Begriffen zu erklären sind. Dann tritt eine "Revolution" ein, in der sich ein neues "Paradigma", eine neue Sicht auf das Problem durchsetzt und ein neues Forschungsprogramm aufgestellt wird - das dann wieder in eine Phase von "Normalwissenschaft" mündet.

Deine Kritik, wissenschaftliche Ideen würden sich in einer Art "survival of the fittest" durchsetzen, wurde auch Kuhn schon entgegengehalten. Sie ist nur bedingt richtig. Ich würde das (in Anlehnung, aber nicht in exakter Übereinstimmung mit Kuhn) so sehen: solange eine community ein gemeinsames Paradigma teilt, setzen sich "richtige" gegen "falsche" Erkenntnisse oder Theorien durch (z.B. dadurch dass Experimente erfolgreich wiederholt oder ihre Ergebnisse angewendet und dadurch bestätigt, andere dagegen als nicht reproduzierbar verorfen werden). Aber in einer wissenschaftlichen Revolution wird eine grundlegend neue Sicht auf die Dinge entwickelt, da ist der bisherige sichere theoretische Boden zu verlassen. Um im Bild zu bleiben, muss man gerade die Schultern des Riesen, auf denen man bisher stand, in Frage stellen. Das ist herausfordernd. Und übrigens (im Gegensatz zur Naturgeschichte), purster "Kreationismus" - was gib es kreativeres als die geistigen Schöpfungen (hier: wissenschaftliche Theorien) des Menschen?!
Ich denke auch das Bild von "einer erfindet es und die anderen machen ja nur noch nach" ist hinterfragenswert. Von einer Grundlage bis zur Anwendung bis zur Breitenanwendung sind es noch sehr, sehr viele kreative Schritte.
Der Ausdruck "Normalwissenschaft" ist keineswegs abwertend. Es ist eine sehr fruchtbringende Arbeit, und diejenigen, die sie leisten, verdienen alle Hochachtung. Ihnen verdanken wir die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik. Und in unregelmäßigen Abständen gibt es eben "wissenschaftliche Revolutionen". Dass ich persönlich die Phasen der geistigen Umbrüche spannender finde, als die des bruchlosen Fortschritts, ist eine Vorliebe von mir, die niemand teilen muss.
"Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden. Aber nicht einfacher." (A. Einstein 1871 - 1955)

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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von mgritsch »

lemmi hat geschrieben: Mittwoch 12. Januar 2022, 16:34 Kuhn sagt (grob zusammengefasst) dass Wissenschaft immer wieder ein neues Forschungsprogramm aufstellt, das dann solange erfolgreich verfolgt wird ("Normalwissenschaft") bis sich Befunde ergeben, die schwierig oder gar nicht mehr mit den alten Begriffen zu erklären sind. Dann tritt eine "Revolution" ein, in der sich ein neues "Paradigma", eine neue Sicht auf das Problem durchsetzt und ein neues Forschungsprogramm aufgestellt wird - das dann wieder in eine Phase von "Normalwissenschaft" mündet."
danke für diese Definition, das klärt einiges. Umgangssprachlich sind Begriffe wie "Revolution" oder "Normal" durchaus wertend konnotiert. In dem Sinne bedeutet der "Fachbegriff" Normalwissenschaft jedoch nur, dass man innerhalb des bestehenden Axiomengebäudes neue, wahre Sätze erzeugt oder neue, nicht in Widerspruch mit den bestehenden stehende Axiome hinzufügt oder Hypothesen/Sätze anhand des bestehenden Axiomengebäudes verifiziert/falsifiziert. Revolution ist dann das Hinzufügen neuer Axiome die in Widerspruch mit bestehenden sind, der nur gelöst werden kann indem bestehende Axiome verworfen werden.

In dem Sinne kann man durchaus hinterfragen wie das einzuordnen ist:
Damals war das kein "kleiner Teilaspekt" sondern eine fundamentale Frage und die Koordinationslehre eine bahnbrechende Therorie, die vieles danach überhaupt erst ermöglicht hat. Gerade dass man damals noch nicht wusste, dass es Elektronen gibt und wie Bindungen beschaffen sind, macht es für mich bewundernswert, dass eine richtige Idee abgeleitet wurde und zwar gegen die bis dato vorherrschende wissenschaftliche Sichtweise
denn vereinfacht betrachtet hat er aus:
Bild
in dem das Co brav 3-wertig ist und der N ein bisschen "flexibler" eingesetzt wurde nur ein [Co(NH3)6]Cl3 gemacht in dem das Co auf einmal 6-wertig sein musste. Und nebenbei ergibt das eine hübsche, platonische Oktaeder-Geometrie. Natürlich passte das dann alles besser zu den Befunden von wegen Leitfähigkeit und Stereoisomere, also war es nicht nur eine beliebige Variante sondern der (bis auf weiteres :) ) richtige Erklärungsansatz.

Aber welches große Axiom wurde damit über Bord geworfen sodass das in die Kategorie "Revolution" einzuordnen ist? Tausche 5-wertigen N gegen 6-wertiges Co? Mit Valenzen und Bindungen war man ja generell recht freigiebig, etwas wie
Bild
war durchaus salonfähig auch wenn es uns heute beim Anblick schaudert. Die organische war ebenso reich an kreativen Strukturformeln, wer bekam dort den Revoluzzer-Nobelpreis fürs aufräumen?

Axiome wie Welle-Teilchen Dualismus, von Masse gekrümmte Raumzeit, die Lichtgeschwindigkeit als das Maximum aller Dinge, der Zusammenhang zwischen Masse und Energie - DAS sind unbestrittene Revolutionen die einige fundamentale alte Axiome ausgehebelt haben. Von mir aus auch Schalen statt Rosinenkuchen, Orbitale statt Schalen... Im Fall der Komplexchemie sehe ich das von der "Größe her" ein bisschen nüchterner, aber das ist wohl individuelle Geschmacksfrage :)
Planck hat sein Wirkungsquantum auch aus purer geistiger Kreativität und empirischer Notwendigkeit eingeführt. Dass es einmal so eine zentrale Stellung im Theoriegebäude der Physik einnehmen würde, hat er selbst nie gedacht.
Auch das ist nichts ungewöhnliches... Schrödinger soll einfach nur von der Mathematik der Wellengleichungen besessen gewesen sein. Dass er damit ein fundamentales Problem der Physik löste, ist ihm eher so "passiert". Andere haben das im Sinne der Physik interpretiert.

Oft genug ist die Situation wohl eher so:
Bild

und welches Korn da gefunden wird können andere erst richtig einordnen :) Dennoch würde ich grundsätzlich eher mit Edison gehen:
“Genius is one percent inspiration and 99 percent perspiration”.
Deswegen meine Frage danach, wo ihr ein Potential für eine ähnliche Strukturrevolution vermutet (Ich, wie gesagt, würde es sehr befriedigend finden, wenn es eine andere Erklärung für den Aufbau der Atome gäbe als unser derzeitiger "Teilchenzoo", wo man immer noch ein neues Teilchen postulieren musste, um das Verhalten der bisherigen zu erklären).
ja, der Teilchenzoo im subatomaren ist definitiv ein Kandidat wo mal aufgeräumt werden muss (ich verstehe sowieso nicht warum immer alle von "Teilchen" sprechen - was ist mit der Erkenntnis dass Teilchen und Wellen das gleiche sind?). Ebenso im ganz großen Kosmos - da gibt es schon viel zu viel dunkle Materie und Energie als dass das noch lange halten könnte. Und die Große vereinheitlichte Theorie der Kräfte (Grand Unified Theory, GUT) muss noch gefunden werden. Und wie die Pyramiden gebaut werden konnten 8) :lol:

GUT finde ich insofern sehr bezeichnend als es einem gewissen Trend folgt, dass neue Theorien oft die alten als Spezialfälle beinhalten, sie also nicht mal ganz von Thron gestoßen werden müssen (nur wenn sie wirklich eine falsche Sackgasse waren). Wir arbeiten also auf ein "Big Picture" hin.

Letztendlich ist es wohl auch eine Frage der kontinuierlichen Entwicklung (Evolution) der gesamten Wissenschaft wie oft es überhaupt noch zu Revolutionen kommt. So wie beim Crypto-Mining die Wahrscheinlichkeit immer weiter abnimmt noch neue Bitcoins zu erzeugen, so nimmt auch in der Wissenschaft die Chance immer weiter ab, noch etwas fundamental neues zu finden oder ein dann schon jahrhundertelang bewährtes Axiom nochmal über Bord werfen zu müssen. Irgendwann nähern wir uns einfach dem Erkenntnisstand 100% (asymptotisch) an.
Deine Kritik, wissenschaftliche Ideen würden sich in einer Art "survival of the fittest" durchsetzen, wurde auch Kuhn schon entgegengehalten. Sie ist nur bedingt richtig. [...] Und übrigens (im Gegensatz zur Naturgeschichte), purster "Kreationismus" - was gib es kreativeres als die geistigen Schöpfungen (hier: wissenschaftliche Theorien) des Menschen?!
von "survival of the fittest" habe ich nicht gesprochen, wenngleich das gerade in der Wissenschaft mit dem Prinzip der ständigen Falsifizierung ganz besonders zutreffend ist. Ebensowenig davon, dass das schon seit Anbeginn der Menscheit so war (wenngleich mit wechselnder Geschwindigkeit durchaus - wir zehren heute immer noch von der Erkenntnis der Nutzung des Feuers wenngleich wir gerade dabei sind es endgültig durch Strom zu ersetzen!)
"Evolution" bezog sich darauf, dass alles immer ein (mehr oder weniger großes) Ergänzen und Modifizieren eines großen Gesamt-Erkenntnisstands ist. So wie nicht eines Tages ein Fisch an Land sprang und beschloss zu atmen, so wie jeder auf den Schultern seiner Vorgänger steht. Jede "kreative" Schöpfung ist in dem Sinne wieder eine kleinere oder größere Mutation im Gebäude die den Kräften der Falsifizierung ausgesetzt ist :) Das Bessere ist der Feind des Guten...
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lemmi
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von lemmi »

Mittlerweile konnte ich die Synthese des Cisplatins wiederholen - dank der Großzügigkeit eines chemischen Universitätsinstitutes, von dem ich ein paar Gramm Kalium-tetrachloroplatinat(II) erhielt, welches ausgemustert worden war. Ich habe mich ziemlich genau an die Vorschrift von Kauffmann und Cowan gehalten und zunächst 4,15 g K2[PtCl4] (10 mmol) in 50 ml Wasser gelöst. Die Lösung war nicht klar, und es setzte sich eine kleine Menge eines gelb-grauen, schweren Pulvers ab (mir waren in dem Reagenz bereits beim Abwiegen dunkle Krümel zwischen den schönen, roten Kristallen aufgefallen – die Uni weiß schon, warum sie die Substanz ausgemustert hatte!), so dass ich noch 0,2 g mehr zugab, abnutschte, mit 10 ml Wasser nachspülte und 3 ml rauchende Salzsäure (ca. 36 mmol) zufügte. Die klare dunkelrote Lösung wurde dann zunächst mit 4 N Ammoniak gegen Lackmus neutralisiert (Verbrauch 9,5 ml), in einem Eisbad gekühlt und dann genau 5 ml der 4 N Ammoniaklösung zupipettiert (20 mmol).

Im Unterschied zu meinem eingangs geschilderten Versuch trat initial gar kein Niederschlag, sondern nur eine opaleszierende Trübung auf. Ich habe den Ansatz in den Kühlschrank gestellt. Nach mehreren Stunden ließ sich eine Niederschlagsbildung erkennen. Nach 5 Tagen (vorher kam ich nicht dazu …) war die Flüssigkeit nur noch blass strohgelb gefärbt. Der Niederschlag wurde abgesaugt und mit 10 ml Wasser gewaschen. Auch dieses Rohprodukt war unansehnlich und bestand aus einer Mischung von gelben Kristallnadeln und braunen Körnern. Ich habe es aus 0,1 N Salzsäure (bei ca 135 ml trat vollständige Lösung ein) umkristallisiert. Von dem in der Syntheseanleitung beschriebenen, grünen Magnus’schen Salz war keine Spur zu sehen, so dass ich nicht filtriert sondern gleich in Eiswasser gekühlt habe. Nach dem Abnutschen und Trocknen erhielt ich 1974 mg eines rein gelben Präparates, eine Ausbeute von 66 % und damit besser, als Kauffmann und Cowan angeben (60 %).

Cisplatin roh aus Kaliumtetrachloroplatinat.jpg
Cisplatin Präparat 2.jpg
Abb.: Rohprodukt auf der Nutsche (oben) - umkristallisiertes Präparat (unten)

Offenbar ist dem Präparat das längere Stehen im Kühlschrank und das UK aus etwas weniger Flüssigkeit gut bekommen. Was die braunen Körner im Rohprodukt waren, die beim UK verschwanden (auch aus meinem oben beschriebenen Rohprodukt habe ich ja ein rein gelbes Präparat erhalten) … keine Ahnung! Das verzögerte Ausfallen des Produktes könnte damit zu tun haben, dass ich die Reaktion in einer größeren Flüssigkeitsmenge durchgeführt habe (im Eingangsversuch ca 40 ml, hier ca 65 ml - Kauffmann und Cowan haben knapp 80 ml eingesetzt)

Auch mit diesem Präparat habe ich die Reaktion mit Thioharnstoff gemacht. Auch hier entstand - entgegen der Literaturangabe – nicht eine gelbe sondern eine rote Lösung und auf Zusatz von Salzsäure fiel ein feiner roter Neiderschlag aus. Dieser veränderte sich beim Stehenlassen über Nacht jedoch nicht und bestand unter dem Mikroskop unverändert aus sehr feinen, rotbraunen Kriställchen. Abgegossen und mit etwas Wasser versetzt entstand erneut eine rote, klare Lösung, aus der mit Salzsäure wieder ein feinpulvriger braunroter Niederschlag ausfiel.

Reaktion mit Thioharnstoff - Präparat cis-2 1.jpg
Abb.: Reaktion mit Thioharnstoff

Ich glaube jetzt nicht mehr, dass mein im Eingangspost beschriebenes Cisplatin verunreinigt ist und deshalb mit Thioharnstoff einen roten Niederschlag gebildet hat, sondern die Literaturstelle enthält anscheinend eine falsche Angabe! Tetrakis-thioharnstoffplatin(II)-chlorid ist rotbraun, nicht gelb, gefärbt. Wenn niemand eine bessere Erklärung hat, würde ich den Eingangspost gerne in diesem Sinne korrigieren.
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lemmi
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Re: cis- und trans-Diammindichloroplatin(II)

Beitrag von lemmi »

Jetzt habe ich auch die Syntehse des trans-Isomeren wiederholt. Ausgangsmaterial waren 4,15 g Kaliumtetrachloroplatinat(II). Dieses wurde in 35 ml wasser gelöst, zum Sieden erhitzt und 10 ml Ammoniaklösung 25% zugesetzt. Die Farbe hellte sich rasch von Dunkelrot nach Strohgelb auf (nicht goldgelb wie in meinem Eingansgpost - das muss doch eine Verunreinigung gewesen sein!). Die Lösung wurde auf 15 ml eingeengt, 10 ml Wasser zugefügt und nachmals eingeengt um das überschüssige NH3 möglichst zu entfernen. Dann wurden dreimal 50 ml 8 N Salzsäure (25 %) zugegeben und destillativ auf je ca. 15 ml eingeengt. Das im eingangspost beschriebene braune Nebenprodukt wurde diesmal nicht beobachtet. Schon bei der zweiten Zugabe trübte sich der Ansatz gelb ein, und beim Abkühlen nach der dritten Einengung fiel ein gelbes Pulver aus, das abgesaugt und mit etwas Wasser gewaschen wurde (Ausbeute A). Das Filtrat wurde erneut mit dreimal 50 ml Salzsäure eingeengt - dazu wurde das beim ersten Mal erhaltene Destillat verwendet, das 6,8 N an HCl war und mit 25%iger HCl auf 150 ml aufgefüllt wurde. Erneut wurde abgesaugt (Ausbeute B) und das Filtrat ein drittes Mal mit 150 ml Salzsäure in der beschreibenen Weisen eingeengt (Ausbeute C). Das letzte Filtrat wurde zum Recycling des darin enthaltenen Restplatins mit einigen Zinkgranalien gerührt, bis es sich entfärbt hatte, von dem ausgefallenen Platinschwamm dekantiert, dieser ausgewaschen und getrocknet.

Erhalten wurden:
Ausbeute A: 1785 mg
Ausbeute B: 570 mg
Ausbeute C: 250 mg
Gesamt: 2605 mg = 86,7 % der Theorie. Wenn man einkalkuliert, dass das Edukt nicht rein war und ca. 200 mg unlösliche Bestandteile abfiltriert werden mussten, liegt die Ausbeute bei über 90 %.

Der Vorteil dieses Vorgehens gegenüber dem von Kauffmann und Cowan beschriebenen ist, dass man mit viel weniger Salzsäure auskommt (dort: 3 x 400 ml 6N HCl!). Das letzte Einengen habe ich mit einem zwischengeschaltetenen Tropfenfänger vorgenommen, und so ein reines Destillat von 6,15 N Salzsäure (= 20,5 % HCl , das Azeotrop!) erhalten, das wiederverwendet werden kann!

Da ich mir über die Reinheit des Präparates nicht sicher war (Kauffmann und Cowan schrieben, das Rohprudukt sei sufficently pure for most purposes) habe ich es aus 0,1 N Salzsäure umkristallisisert. Dazu waren 330 ml notwendig (Löslichkeit in der Hitze ca. 0,74 g/100 ml). Nach Kristallisation im Kühlschrank über Nacht wurden 2200 mg erhalten (85 % vom Rohprodukt).

Synthese Transplatin 2.1.jpg
Synthese Transplatin 2.4.jpg
Kochen des Eduktes mit Ammioniak - Bildung von Tetraamminplatin(II)-chlorid

Synthese Transplatin 2.5.jpg
Destillatives Einengen mit Salzsäure (hier noch ohne Tropfenfänger vor dem Kühler)

Synthese Transplatin 2.7.jpg
Absaugen des Rohproduktes

Im Ausgangspost habe ich eine Anmerkung über die hier beschriebene Wiederholug der Synthesen eingefügt.
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