Die Waage zur Mikrochemie: Die Cahn-Electrobalance

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Seaborg
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Die Waage zur Mikrochemie: Die Cahn-Electrobalance

Beitrag von Seaborg »

Seit Chemiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend die Mikrochemie als nützlich für bestimmte Fragestellungen erkannten, wurde versucht, auch quantitative Verfahren zu etablieren. Hier taten sich insbesondere Emich und sein Schüler Benedetti-Pichler hervor. [1]
Davor war schon die einfach zu bauende Fadenwaage von Salvioni, die die verwertbare Beziehung zwischen einem kleinen Gewicht und der Biegung eines Quartzfadens nutzte. Emich und seinen Zeitgenossen standen aber schon äußerst genaue und komplexe Mikrowaagen zur Verfügung, die z.B. von Kuhlmann gebaut wurden. Sie waren überaus empfindlich gegen auch leichte Erschütterungen, Luftfeuchtigkeit, Zug, und elektrische Aufladung. Eine kleine Unachtsamkeit eines weniger im Umgang mit der Waage Vertrauten konnte diese für lange Zeit unbrauchbar machen oder zerstören.
Für die Mikro- und Ultramikrochemie des Manhattan-Projektes (insb. des "metallurgical project") griff man der Einfachheit halber zunächst wieder auf das Prinzip der Fadenwaage zurück, das etwa Mitte der 40er Jahre durch Cunningham/Seaborg mithilfe der Einführung eines eingebauten Mikroskops zur Ablesung der Absenkung des Fadens an eine Grenze gebracht wurde. Im Falle einer (häufigen) Kontamination wurde die Waage entsorgt und eine neue gebaut, meist von den Physikern des "project".
Etwa zu Beginn der 2. Hälfte der 40er Jahre wurden extreme Waagen gebaut, die auf dem Prinzip der Torsion hauchfeiner Quartz-Fäden beruhten und im Bereich von Nanogrammen unterwegs waren! [2]

Etwa April 1957 entwickelte der Ingenieur Cahn eine Waage, die darauf beruhte, die Rückstellkraft einer Spule in einem Magneten zu messen, nachdem die Auslenkung durch ein Gewicht diese im Magneten verdreht hat.
Die Waage war klein, unempfindlich gegen alle äußeren Einflüsse und sehr robust. [4]
Bereits die 2. Version, die "Cahn Gram"-Waage, die hier vorgestellt wird, konnte bis zu einer Empfindlichkeit von 0,1 µg (100 ng) messen.
Sie kann hin- und hergetragen werden, muss nicht per "Libelle" plan gestellt werden, ist nahezu unempfindlich gegen Erschütterung und Umweltbedingungen, kann auch von Ungeübten verwendet werden und:
Sie ist ein Schmuckstück in meinem Mikrochemischen Labor!


Bilder:
cahn8.jpg
Ein wunderschönes Exemplar, nach langer Suche in den US in einem perfekten Zustand ergattert.

cahn3.jpg
Unten die Drehknöpfe für die "Nullung", die "Kalibrierung mit den Gewichten (weiter unten) und die Messung

cahn9.jpg
Mithilfe des Nonius-Drehknopfes und des Potentiometers (?) läßt sich das Gewicht im Bereich bis 1 mg mit einer
Empfindlichkeit von 100 ng bestimmen. Bei Gewichten zwischen 1 mg und 5 mg sinkt die Empfindlichkeit um das 5-fache. (0.5 Mikrogramm)
Der Messbereich wird mit dem schwarzen Drehknopf auf der Deckplatte eingestellt.

cahn5.jpg
Die Messkammer: oben links das kleine, beleuchtete Fenster mit einer Art Fresnel-Scheibe.
Zwei winzige Waagschalen aus sehr dünnem Nickel-Chrom-Draht mit kleinen Auflagen aus Aluminium.
Das muß natürlich äußerst vorsichtig mit speziellen Pinzetten aus Horn gehandhabt werden.

cahn6.jpg
Hier sieht man das zentrale Element der Waage: den Elektromagneten, in dem die Achse
des Balkens steckt. Hier kann man einfach durch vorsichtiges Verdrehen einer zeigerartigen
Vorrichtung den Nullungsprozess vereinfachen und evtl. größere Differenzen der Waagschalen
ausgleichen ("coarse zero"). [3]

cahn7.jpg
Ein hauchzartes "stirrup"
Weiter rechts auf dem Balken sieht man eine weitere leere kleine Öse für ein stirrup. Wenn man die linksseitige Waagschale hier einhängt, erweitert man den messbaren Bereich auf das 5-fache, während sich damit die Empfindlichkeit im gleichen Faktor verringert.

cahn10.jpg
Im beleuchteten Sichtfenster sieht man zwei zarte Balken, die genau übereinanderstehen
müssen. Bei der letztendlichen Messung des Gewichtes dreht man dazu am Nonius-Drehknopf.
Hier steht und fällt die Genauigkeit der Waage

cahn11.jpg
Der Noniusdrehknopf. Eingestellt sieht man hier 0,2130 mg.

Cahn2.jpg
Mit der Waage habe ich einen umfangreichen Gewichtssatz von 1 mg bis 500 mg sowie zahllose
Alu-Schälchen und viele "stirrups" bekommen. Lämpchen, Sicherungen, Pinzetten und vieles mehr
waren dann bei der zweiten Waage dieses Typs dabei. Seitdem habe ich bei ständiger Beobachtung
keine vergleichbaren "Typ Gram"-Waagen mehr gesehen. (seit mehreren Jahren nur "Schrott")

Cahn1.jpg
cahn13.jpg
Hier eine Zeichnung der Funktionsweise meiner Waagen; das rechte Bild passt.

cahn14.jpg
Hier ein Reklamebild der Vorgängerin ("Cahn Electrobalance"), die mir ein Vermögen wert gewesen wäre.

cahn12.jpg
Hier ist sie: Die Mutter aller Cahn-Waagen

cahn17.jpg
und eine späte Tochter. Nach einigen Messungen gab sie ihren Geist auf !


Literatur:
[1] Handbuch der mikrochemischen Methoden/Waagen und Geräte zur anorg. Mikro-Gew.Analyse
A.Benedetti-Pichler/ F.Hecht 1959
[2] P.Kirk, R.Craig, j.Gullberg, r.Boyer, Analyt. Chemistry, 19, (1947) 427
[3] Cahn, L., Schultz, H.R. (1962). The Cahn Gram Electrobalance. In: Walker, R.F. (eds) Vacuum Microbalance
Techniques. Springer, Boston, MA. https://doi.org/10.1007/978-1-4899-6285-0_2
[4] https://doi.org/10.1021/ac50162a751
SebastianV
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Re: Die Waage zur Mikrochemie: Die Cahn-Electrobalance

Beitrag von SebastianV »

Wieviel hast du für die erste Waage bezahlt? Warum wird so etwas heute nicht mehr hergestellt, wo es doch so viele Vorteile hat?
Nach einigen Messungen gab sie ihren Geist auf !
Oh nein. Aber das sollte man doch reparieren können!
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lemmi
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Re: Die Waage zur Mikrochemie: Die Cahn-Electrobalance

Beitrag von lemmi »

Ein tolles GerätI Ich liebe Waagen!

Wie ist denn genau das Funktionsprinzip? Mit aufgelegten Gewichten, oder sind die nur zum Kalibrieren da ?(in diesem Falle verlieren sie nach einiger Zeit ihre Gültigkeit! Und was mach diese Waage so viel empfindlicher als die üblichen Balkenwaagen (z.B. diese hier)?

P.S. habe das ganze mal in dieses Unterforum verschoben - da passt es besser hin als in die Artikelschmiede 8)
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Seaborg
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Re: Die Waage zur Mikrochemie: Die Cahn-Electrobalance

Beitrag von Seaborg »

@SebastianV
Ich habe von der vorgestellten Waage zwei, die kurz nacheinander bei Ebay angeboten wurden.
Da ich mir kaum vorstellen konnte, daß beide die Reise aus Am. überstehen, habe ich bei beiden zugeschlagen.
Sie haben, wenn ich mich recht entsinne, etwa 200, bzw. 300 € gekostet.Seit etwa 4 Jahren tun sie brav
ihren Dienst und denken nicht mal dran, kaputt zu gehen.
Die später noch erworbene große Cahn war nach kurzer Zeit hinüber. Die Elektronik spielte verrückt.Sie wurde entsorgt.

@lemmi
der dünne metallene Waagbalken hat an seiner Drehachse eine Spule, die in einen Magneten reicht. Die Rückstellkraft wird durch
den zunehmenden Widerstand bei Auslenkung der Spule bewerkstelligt und gemessen. Die genaueren Hintergründe kenne ich auch nicht.
Anscheinend wird dann mit Drehreglern der Ausgangszustand wieder neu eingestellt und die dazu notwendige Drehung (am Drehnonius)
gemessen.
Die Gewichte werden nur am Anfang für die Kalibration benötigt. Danach braucht man über lange Zeit (des Tages) nur noch die eigentlichen Gewichtsmessungen vorzunehmen.
Das eigentliche Problem ist eher die Arbeit vor der Waage, d.h.: das Aufbringen von kaum noch sichtbaren Proben auf die Waagschälchen.

Für's Grobe habe ich eine Mettler AE 240. Die misst (immerhin) bis 10 µg (Differenz). Das heißt, die Cahn ist 100 mal so empfindlich.
Dafür ist das aber nur bis zu einem Gewicht von 1 mg möglich! Bei höheren Gewichten (bis 1 g !) sinkt die Empfindlichkeit schnell.
Dafür kann ich auf die Mettler bis zu 200 g legen. Der Aufgabenbereich ist also ein völlig anderer.
Die Waagen, die du vorstellst (und meine Mettler) haben grobe Gestänge, die zum Teil bewegt werden müssen; die Cahn ist sozusagen (bis auf die lautlose Drehung) unbewegt und ohne weitere Massen.
Nochmals feiner und genauer geht es nur mit den Extrem-Waagen des "metall. project", bei denen nur die Torsion eines hauchzarten Quartzfadens die Rückstellkraft bewerkstelligt. Mit einem System von Rädern (außen) wird die Torsion, bzw. die Auslenkung des Querfadens, an dem das Gewicht hängt, zurückgestellt und die Drehung des Rades gemessen.
Die sehr geringen Auskenkungen werden mithilfe von Mikroskopen sichtbar gemacht. So kann man z.B. eine Auslenkung des Gewichtsfadens von wenigen µm durch ein Gewicht von 10 ng darstellen
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Re: Die Waage zur Mikrochemie: Die Cahn-Electrobalance

Beitrag von Uranylacetat »

Danke für diesen interessanten Artikel. Solche Waagen finde ich sehr spannend in puncto Genauigkeit bei Kleinstmengen. Man braucht ja fast schon Lupen, um die paar Körnchen oder Stäubchen von den Proben zu sehen. :wink:

Erstaunlich finde ich auch immer wieder, in welchen gutem Zustand es diese Geräte gibt. Das ist fast schon wie ein Sechser im Lotto heutzutage und dann noch so viel wichtiges Zubehör dazu ... :wink:
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Re: Die Waage zur Mikrochemie: Die Cahn-Electrobalance

Beitrag von Glaskocher »

Diese Waage ist vom Prinziep her sehr interessant. Das zentrale Element erinnert mich an ein Drehspul-Amperemeter, das in diesem Fall "rückwärts" benutzt wird. Der Waagebalken wird durch die Spule in eine definierte Ausgangsposition gebracht und durch das Wägegut ausgelenkt. Ein (zusätzlicher?) Strom, der über den Zehngang-Wendelpoti (mit Nonius für zusätzliche Stelle) durch die Spule geschickt wird, kompensiert die Auslenkung durch eine elektromagnetische Kraft, die durch die Gewichtskraft des Wägegutes erzeugt wurde.

ich vermute, daß die Hornpinzetten zum Einen elektrostatische Effekte mindern sollen und auch weniger Verformung und Abrieb an den Waageschalen verursachen als Metallpinzetten.

Damit müßte man den "berühmten" Fliegenschiß exakt quantifizieren können, wenn er erst mal trocken ist.
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mgritsch
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Re: Die Waage zur Mikrochemie: Die Cahn-Electrobalance

Beitrag von mgritsch »

Das Thema der Störungsanfälligkeit interessiert mich. Bei so geringen Gewichten müsste doch der kleinste Lufthauch (Konvektionen?), Erschütterungen (Tisch) oder statische Ladungen völlig unbrauchbare Werte ergeben. Wie schützt man sich davor?

Detto Schwingungen - wie ist so eine Waage gedämpft?
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lemmi
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Re: Die Waage zur Mikrochemie: Die Cahn-Electrobalance

Beitrag von lemmi »

Die Gewichte werden nur am Anfang für die Kalibration benötigt. Danach braucht man über lange Zeit (des Tages) nur noch die eigentlichen Gewichtsmessungen vorzunehmen.
Wenn das ohne Gewichte geht, was macht man dann während der Wägungen mit der zweiten Waagschale?
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Seaborg
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Re: Die Waage zur Mikrochemie: Die Cahn-Electrobalance

Beitrag von Seaborg »

Wenn das "Wägegut" auf der kleinen Schale ist, wird eine kleine Scheibe vor dem Wägeraum heruntergezogen, sodass kein Lufthauch stört. Eine wirksame Dämpfung wird m.E. durch die Bauart (also elektromagnetisch) geliefert. Lange oder ausgedehnte Schwingungen sind jedenfalls kein Problem.
Beim Aufbringen der zu wägenden Substanz sollte man eine Maske tragen (oder die Luft anhalten)
Die zweite Waagschale wird nur für spezielle Kontergewichte benötigt und ist normalerweise unbenutzt.
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