Wieso schwingt eine Waage?

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Timmopheus
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Beitrag von Timmopheus »

Habe mich jetzt mal richtig damit befasst und die Momentenbilanz aufgestellt. Die bisherigen Annahmen waren nicht falsch, aber ungenau. Ein einfacher Balken (ob Schwerpunkt symmetrisch oder nicht) lässt sich nicht direkt mit einer Balkenwaage gleichsetzen. Wenn man es zeichnet sieht man auch warum:
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Rechteck ABCD als Balken, mit den gedachten Angriffspunkten für die Kraft in A und B (A rechts unten, leider etwas verdeckt)
M ist der geometrische Mittelpunkt des Balkens. Strecke m teilt den Balken symmetrisch. M1 und M2 sind die geometrischen Mittelpunkte der Balkenarme.
SP liegt auf der Strecke m nach unten verschoben und ist der gedachte Schwerpunkt. (Durch Zeiger oder Gewicht in Verlängerung von m) Die Schwerpunkte der Arme liegen damit weiter in ihren geometrischen Mittelpunkten.
Es wurde von Punkt B, den Mittelpunkten und dem Schwerpunkt das Lot gefällt (siehe entsprechende Punkte unten, mit Index) A lag auf der Grundlinie, daher ist A auch der Lotpunkt (LP) von A.
Der Balken ist in schräger Stellung, da mehr zu sehen ist, als im Spezialfall "gerader Balken".

Soweit so gut. Misst man nun die Abstände der Lotpunkte zum LP von M, erhält man die Hebelarme für die Momentenbilanz. Nun zeigt sich bald der Denkfehler der bisherigen Vereinfachung:
Bild

1) Für den reinen Balken sind die Abstände (also Hebelarme) vom LP M zu den LP von M1 und M2 entscheidend, diese betragen hier jeweils 2,08. Eine Drehung ändert also nichts an den Abständen. Da die Balkenhälften identisch sind und die Kraft im Schwerpunkt angreift, kann man den Balken in jede beliebige Position bringen, es bewegt sich von alleine nichts zurück.

2) Für den Balken mit außermittigem Schwerpunkt (also mit Zeiger) gilt das Gleiche, es kommt aber noch der Hebel vom LP SP zum LP M hinzu (Abstand 0,34) Es ist offensichtlich, dass der Balken nun eine Drehung gegen den Uhrzeigersinn vollführt. Danach pendelt er aus, wie bereits besprochen.

3) Werden in A und B zwei identische Waagschalen eingehängt greifen in den Punkten zwei identische Kräfte an. Nun müssen die Hebelarme der entsprechenden LPs zum LP M miteinbezogen werden.
HIER tritt nun der Fehler zu Tage: Die Abstände sind nicht mehr gleich (3,6 und 4,71) Die Kraft in B greift mit einem längeren Hebelarm an, als die Kraft in A. Folglich resultiert wieder eine Drehung gegen den Uhrzeigersinn. Danach Pendel ins Gleichgewicht. Im Gleichgewicht steht der Balken waagerecht, die Abstände sind wieder gleich. Lägen die Angriffspunkte der beiden Kräfte (also Aufhängepunkte der Waagschalen) jeweils auf der Mitte der Strecken AD bzw BC, würde dieses Phänomen nicht auftreten.




Es ist ersichtlich, dass zwei Konstruktionsmethoden für eine Balkenwaage möglich sind:

A) Aufhängung der Waagschalen in A und B. Es ist kein Zeiger/Gewicht nötig, da sich die Hebelarme bei Auslenkung ungleich verändern. Das Gewicht der Waagschalen (+Wägegut) zieht die Waage ins Gleichgewicht

B) Die Waagschalen sind auf einer Achse mit M aufghängt (Aufhängepunkt Y, M und Aufhängepunkt X befinden sich auf einer Geraden) Bei Drehung verändern sich die Hebelarme symmetrisch, es resultiert kein Moment. Ein Zeiger/Gewicht (Verschiebung des Schwerpunkts des Balkens) ist nötig, um den Balken zurückzustellen.



Ich denke es ist so ausführlich, dass es für jedermann verständlich ist.





P.S.
Was ich allerdings außer Acht gelassen habe, ist die potentielle Energie der Waagschalen. Ich befürchte in Fall 1) könnte eine IDEALE Waage mit reibungsfreier Lagerung dennoch ein Moment erfahren, da durch die minimale Höhendifferenz der Waagschalen eine minimal unterschiedliche potentielle Energie vorhanden ist. Allerdings bin ich mir da unsicher. Es könnte in meinen Augen auch sein, dass die untere Schale (mit weniger pot. Energie) näher an der Erde ist, und dadurch eine stärkere G-Kraft erfährt) Da bin ich vorerst auch überfragt.
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

Vielen Dank für diese ausführliche Herleitung, Timmopheus!

Nach dem Lesen deiner Beschreibung habe ich bemerkt, daß meine sämtlichen Waagen, so gebaut sind, daß der Angriffspunkt der Gewichte genau in der Verlängerung der Drehachsen liegt. Auf den ersten Blick ist das gar nicht so offensichtlich. Aber die Drehpunkte der Waageschalenaufhängungen und des Balkenlagers in der Mitte liegen auf einer Geraden. Unter den von dir genannten Konstruktions-Alternativen entspicht das der Ausführung B.

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Das war mir bisher noch gar nicht aufgefallen! Offenbar hat diese Konstruktionsweise einen Vorteil gegenüber Variante A.
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

Ich glaube, mir ist eingefallen, warum keine Waagen, nach dem Prinzip A gebaut werden!

Wenn die Länge der Hebelarme - von der Stellung des Waagebalken abhängig - auf beiden Seiten verschieden ist, wird die Höhe des Ausschlags vom aufgelegten Gewicht abhängen. Der Waagebalken schlägt nur soweit aus, bis der Hebel soweit verkürzt wurde, daß die Drehmomente gleich sind. Das kann bei kleinen Gewichten nur sehr wenig sein, so daß die Waage wenig empfindlich ist. Zudem ist das Ablesen kleiner Auslenkungen ohne Zeiger schwierig.

Bei einer Balkenwaage nach dem Konstruktionsprinzip B senkt sich der Waagearm - wenn kein Zeiger da ist - selbst bei minimalem Gewicht maximal nach unten (wenn man die Reibung vernachlässigt) wie ich in meiner Eingangsfrage formuliert hatte. Mit Hilfe des Zeigers und eines Gegengewichtes kann man die Empfindlichkeit der Waage gut regulieren.
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lemmi
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Re: Wieso schwingt eine Waage?

Beitrag von lemmi »

Ich mache diesen alten Thread mal wieder auf, weil ich noch eine Frage zum Thema Physik von Waagen habe:

Wenn man eine Substanz in einem Tiegel zur Gewichtsanalyse geglüht oder getrocknet hat, muss der Tiegel vor dem wägen im Exsikkator vollständig auskühlen. In warmen Zustand bringt der Tiegel ein geringeres Gewicht auf die Waage als im abgekühlten.

Warum ist das so?
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mgritsch
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Re: Wieso schwingt eine Waage?

Beitrag von mgritsch »

ganz einfach: Konvektion! Warme Luft steigt auf und diese Strömung "zieht" am Tiegel...
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lemmi
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Re: Wieso schwingt eine Waage?

Beitrag von lemmi »

Das hatte ich mir auch überlegt, aber kann der Effekt so groß sein? Wie kann die Luft am Tiegel "ziehen"?

Oder liegt es an der Wärmeausdehnung und der Luftauftrieb wird dadurch größer (obwohl, das sollte schätzungsweise nicht mehrere Milligramme ausmachen).
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mgritsch
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Re: Wieso schwingt eine Waage?

Beitrag von mgritsch »

Wenn sich die umgebende Luft erwärmt/ausdehnt dann sinkt ihre Dichte - gegenteiliger Effekt, das würde den Tiegel etwas schwerer erscheinen lassen.

Blase nur zart auf die Waage und du siehst was ein Hauch anrichten kann. Konvektion an einem heißen Gegenstand macht ganz schön viel „Wind“.
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lemmi
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Re: Wieso schwingt eine Waage?

Beitrag von lemmi »

Okay, Erklärung akzeptiert!
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