Das Prochinin-Rätsel und die Chemie der Chinaalkaloide

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lemmi
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Beitrag von lemmi »

Danke dir für diese Erläuterungen!
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

Wie war das noch mal mit der Koinzidenz? Wenn man sich mit etwas beschäftigt stößt man unverhofft alle Nase lang darauf! In meinem Falle fand ich auf dem Flohmarkt folgendes Röhrchen:

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Bild

Obwohl das Präparat "Novalgin-Chinin" heißt, ist in der Zusammensetzung nicht "Chinin" sondern "Alkaloide aus Chinarinde" angegeben! Das riecht doch nach Prochinin! Also habe ich ein Dragee zerrieben, mit etwas Wasser und ein paar Tropfen Salzsäure versetzt, vom Ungelösten abgegossen, mit Ammoniak alkalisiert und mit Ether ausgeschüttelt:

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Der flockige Niederschlag ist Calciumhydroxid, weil das Präparat Novalgin als Calciumsalz enthält. Den Ether habe ich grob abpippetiert, abgedunstet und den Rückstand in Methanol gelöst einer DC unterworfen. Die Referenz links enthält Chinidin (Referenzsubstanz Merck), Chinin (dito) und Cinchonidin (eigenes Präparat).

Bild Bild
links v.u.n.o: Chinin, Cinchonidin (blau) und Chinidin
rechts: Probe

Das Präparat enthält Cinchonin (oberster, in der Referenz nicht auftauchender Fleck), Chinidin (wenig) und der Hauptanteil ist Cinchonidin. Chinin ist in Spuren enthalten, wie die Fluoreszenz zeigt (im UV sieht man ausserdem, daß auch die Referenzpräprate nicht frei von Dihydrobasen sind!). Das passt dazu, daß hier nicht Chinin , sondern "Prochinin" verarbeitet wurde - vielleicht sogar eines mit einem noch höheren Cinchonidinanteil als ursprünglich (47,5%) vorgesehen. Eigentlich ein Ettikettenschwindel. Sowas ginge heute nicht mehr.
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Uranylacetat
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Beitrag von Uranylacetat »

Toll, was Du für alte Schätzchen so findest... :wink:
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

Mir ist noch eine Unstimmigkeit in den chemischen Bezeichnungen aufgefallen.

Während meine Stereoformeln:

Bild

die Numerierung des Chinuclidinringes so vornehmen, daß die Vinylgruppe an Position 3 hängt - und ich das auch in der neueren Literatur so gefunden habe - geben die systematischen Bezeichnungen in der Wikipedia stattdessen "-5-vinyl -" an.

Kann mir das jemand erklären?
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

@ Hannes: kannst du mir mit dem Problem der Benennung (s. vorigen post) helfen?
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NI2
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Beitrag von NI2 »

Bei der Benennung kann ich dir ohne Weiteres erstmal nicht helfen. Mir ist bei der Recherche zum Capsaicin aufgefallen, dass es dabei regelrecht Diskussionen um eine korrekte Nomenklatur gab und letztendlich sogar ein ganzes Paper darüber, was sich damit befasst hat die die Capsaicine richtig und sinnvoll zu benennen sind. Ähnliches könnte auch hier der Fall sein, weil historische auf moderne Nomenklatur trifft.
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

In meinem "Schneider - Arzneidrogen von 2004 (Nachdruck 2011) steht noch "3-vinyl...". In der Wikipedia und im aktuellen Arzneibuch steht "5-ethenyl...".

Wenn ich das mit der alten und neuen Nomenklatur richtig verstehe, müssen sich die Regeln für die Numerierung der Atome in den letzten 15 Jahren verändert haben. Ist das so?
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NI2
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Beitrag von NI2 »

lemmi hat geschrieben:In meinem "Schneider - Arzneidrogen von 2004 (Nachdruck 2011) steht noch "3-vinyl...". In der Wikipedia und im aktuellen Arzneibuch steht "5-ethenyl...".

Wenn ich das mit der alten und neuen Nomenklatur richtig verstehe, müssen sich die Regeln für die Numerierung der Atome in den letzten 15 Jahren verändert haben. Ist das so?
Vermutlich gibt Wiki hier keine Quelle an. Das Problem an generischen Namen ist, dass diese manchmal nicht im Einklang mit der konventionellen Nomenklatur stehen (bzw dann angepasst wurden und sich so verschiedene Nummerierungen finden). Wie es in diesem Fall ist müsste man wie gesagt recherchieren.
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

Ich finde, du vermischst zwei verschiedene Begriffe:

1. wenn du sagst "generische Namen" kann sich das nur auf die Bezeichnung "allyl" statt "ethenyl" beziehen
2. die Stellung - d.h. die Numerierung der Atome - hängt aber nicht von einer evtl. generischen Namensgebung ab sondern folgt doch wohl strikt der IUPAC-Konvention.

Mir geht es um letztes. Ich sehe nicht , wo es da eine Möglichkeit zum Streit geben sollte. Konvention ist halt Konvention und muss angewendet werden. Es muss doch eine internationales Register geben, das sagt, welche Bezeichnung massgeblich die richtige ist!? Da im Arzneibuch "5-ethenyl" steht, gehe ich davon aus, dass das der aktuellen Nomenklatur entspricht. Auch auf die Gefahr hin, dass mgritsch mir wieder Obrigkeitshörigkeit vorwerfen wird. :mrgreen:
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Beitrag von Xyrofl »

Es gibt sehr wohl von der klassischen Nummerierung abweichende Regeln, die quasi die normalen IUPAC-Regeln überschreiben. Das macht man bei wichtigen Grundgerüsten, damit die Nummern unabhängig von den IUPAC-Prioritäten der Reste werden und außerdem können Menschen im Kopf all zu große Systeme schwerlich priorisieren, das geht nur bei kleineren Molekülen gut. So würde beispielsweise bei Steroiden niemand die Regeln für Polyzyklen anwenden und die Verbrückungsnummern nach den allgemeinen IUPAC-Regeln minimieren wollen. Für Steroide gibt es eine verbindliche Nummerierung und für andere Systeme auch. Leider sind teilweise dann verschiedene Nummerierungen für ein und das selbe Gerüst im Umlauf.
kann sich das nur auf die Bezeichnung "allyl" statt "ethenyl" beziehen
Achtung! Allyl ist nicht Ethenyl, sondern ein bestimmtes Propenyl und zwar das mit der endständigen Doppelbindung, also 2-Propenyl. Das eigentliche Propenyl ist 1-Propenyl und Ethenyl ist Vinyl.
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NI2
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Beitrag von NI2 »

Xyrofl hat geschrieben:Für Steroide gibt es eine verbindliche Nummerierung und für andere Systeme auch. Leider sind teilweise dann verschiedene Nummerierungen für ein und das selbe Gerüst im Umlauf.
Für wichtige Systeme gehen die "menschlichen"-Nummerierungen auch in das IUPAC-System über, können aber - auch schon bei kleinen Änderungen am Grundgerüst - abweichen. Folgendes Beispiel illustriert das ganze:

Oben die konventionelle Zählweise für das Steran, hier im Beispiel mit der berüchtigten 14-OH-Gruppe. Im unteren Beispiel wurde der ehemalige A-Ring expandiert, man würde annehmen, man zählt wie im Steran und es müsste dann ein 15-OH sein. Diese Diskrepanz meine ich mit "generischer" Nomenklatur, welche z.b. Chemdraw ausgibt, noch dazu kommt, dass nach der Von-Baeyer-Nomenklatur beim C7-Ring (als größte Brücke) die Zählung beginnen würde und somit generierte Namen - wie sie gerne auf Wiki verwendet werden - fehlerbehaftet sind weil durch die Nichtbeachtung der Nomenklaturregeln die Software einen falschen Namen ausspuckt. Die hier (zweites Beispiel) benutzte Nummerierung ist eine vereinfachte Form und leitet sich von den kondensierten Aromatensystemen ab (daher auch das "Naphthalen" im Namen und nicht die rein systematische Nomenklatur für polycyclische Systeme. Dazu kommt, dass im oberen Beispiel der Name auch nach dem Aromatensystem generiert wird, da "Phenanthren", die Nummerierung aber nicht dem Aromatensystem folgt weil sie konventionell ist!). Dazu kommt, dass mit den Nor-, Homo-Präfixen das untere Grundgerüst als A-Homo-Steran(-ol) ("A" bezeichnet den Ring, "Homo" dass dieser um ein C-Atom erweitert wurde) bezeichnet werden könnte, was aber die Nummerierung dann in ein komplettes Chaos stürzt. Daher meinte ich, dass es bei solchen Nummerierungen notwendig ist sich in ein Thema einzulesen um zu schauen wie in der Literatur mit diesem Beispiel umgegangen wird.
Bild

Aus diesem Grund sind Nachschlagewerke sinnvoll in denen die Nummerierungen aller gängigen Grundgerüste aufgelistet sind.

EDIT: Wiki-Artikel zu Lokanten
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

Okay, danke für die Beispiele. Die Nomenklatur ist somit vielschichtiger als ich gedacht hatte.
Dann müssten die Unterschiede in der Nomenklatur an einer "traditionellen" und einer "systematischen" Numerierung des Chinuclidingerüstes hängen?

@Xyrofl: ich hatte doch glatt "vinyl" und "allyl" durcheinadergeworfen. Natürlich ist "ethenyl"="vinyl"!
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Beitrag von NI2 »

Das ist denkbar. Es kann einfach sein, dass der Name bei Wiki z.B. mit Chemdraw generiert wurde und dort vereinfachte Regeln angewendet wurden und sich damit die Nummerierung ändert (Darum bevorzuge ich auch Strukturen vor Namen).

Allerdings ist es vermutlich nicht immer ganz so schlimm. Die Stereoid-Nomenklatur ist ein eigenes Feld, weil sie von enormer Wichtigkeit und Komplexizität ist.
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

Noch ein historisches, Chinin-enthaltendes Medikament (auch vom Flohmarkt):

Bild

Die DC zeigt, dass hier echtes und offenbar auch reines Chinin verarbeitet wurde:

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Zwei gegen Erkältungen und Grippe unwirksame Substanzen in hoher pharmazeutischer Qualität in einer Tablette! :wink:
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Uranylacetat
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Beitrag von Uranylacetat »

Hehehe! :wink: Damals wie heute haben die Pharma-Hersteller mit so "unsinnigen" Wirkstoff-Kombinationen zu vielen vorgeblichen Indikationen immer "Reibach" gemacht....
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