Nachweis der Tropanalkaloide in Nachtschattengewächsen

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lemmi
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Nachweis der Tropanalkaloide in Nachtschattengewächsen

Beitrag von lemmi »

Nachweis der Tropanalkaloide in Nachtschattengewächsen

Zwei der bekanntesten einheimischen Giftpflanzen, Tollkirsche und Stechapfel, sowie die aus Südamerika stammenden Engeltrompeten, enthalten als wirksame Prinzipien die Tropanakaloide Hyoscyamin und Scopolamin. Mit den hier beschriebenen, relativ einfachen Mitteln lassen sich die Alkaloide in Nachtschattengewächsen gut nachweisen, identifizieren und sogar in ihren Anteilen halbquantitativ abschätzen. Dazu werden die Farbreaktion nach Vitali und die Dünnschichtchromatographie eingesetzt.

Vorbemerkung zur Wortwahl: Im folgenden werde ich häufig das Wort "Droge" benutzen. Mit diesem Fachausdruck bezeichnet man in der Pharmazie tierische oder pflanzliche Ausgangsstoffe, die weiter zu Arzneimitteln verarbeitet werden. Das Wort ist etwa 400 Jahre alt und geht vermutlich auf das französische drogue zurück, das vom altniederländischen droge fate, d.h. "Faß für Getrocknetes", abgeleitet wurde. Damit wurden die Behältnisse bezeichnet, in denen getrocknete Pflanzenteile (oft importiert) gehandelt wurden. Später wurde die Bezeichnung synonym für "Medikament" (z.B. drug im Englischen!). Die Bedeutung des deutschen Wortes "Droge" im Sinne von "rauscherzeugender Substanz" stammt erst aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.


Materialien/Geräte:

verschließbares Glasgefäß/Kolben mit Stopfen o.ä.; Trichter, Filter, Abdampfschale, Glasstab, Pipette, Erlenmeyerkolben 100 ml, Messzylinder 10 ml und 50 ml, Scheidetrichter 75 ml, Destilliervorrichtung (Kolben, Kühler, Vorlage) mit Wasserbad, Kolbenhubpipette 10-20 µl mit auswechselbarer Spitze (alternativ: Kapillare mit Markierung), DC-Folien Kieselgel G254F (5x10 cm), Schraubdeckelgläser (in Größe der DC-Folien), Kunststoffschale o.ä. (als improvisierte Sprühkammer), 50 ml-Flasche mit Sprühkopf, Saugfähiges Papier (Filtrierpapier, Küchenkrepp)


Chemikalien:

Ethanol 96 % Warnhinweis: f
Ammoniaklösung 25 % Warnhinweis: cWarnhinweis: n
Salzsäure 1N (ungefähr 3,5 %) Warnhinweis: c
Diethylether
wasserfreies Natriumsulfat

Natriumchlorid (Kochsalz)

Aceton Warnhinweis: fWarnhinweis: attn
Methanol Warnhinweis: fWarnhinweis: t
rauchende Salpetersäure Warnhinweis: c
ethanolische Kalilauge ca. 1 N Warnhinweis: c(3 g Kaliumhydroxid in 50 ml Ethanol 96 % lösen)

Weinsäure Warnhinweis: attn
Dragendorff-Reagenz (nach Ph. Eur.: 0,43 g basisches Bismutnitrat, 5 ml Essigsäure, 4 g Kaliumjodid und 30 ml Wasser)

Referenzsubstanzen für DC:
Atropinsulfat Warnhinweis: t+
Scopolaminhydrobromid Warnhinweis: t+

Sicherheitshinweise

Diethylether ist hoch feuergefährlich – bei sehr guter Lüftung arbeiten! Keine offenen Flammen im Raum!
Die hier aus den Drogen extrahierten Alkaloidmengen sind zwar von der letalen Dosis weit entfernt, könnten jedoch bei Einnahme durchaus Vergiftungserscheinungen bewirken.


Versuchsdurchführung:

1. Die Pflanzen:

Tollkirsche (Atropa belladonna L.): die Tollkirsche wächst in lichten Laubwäldern auf kalkhaltigen Böden oder Sandstein. Sie ist mehrjährig und fällt schon durch ihren charakteristischen Wuchs auf: aus einem oder mehreren senkrechten Stängeln entspringen auf ¾-1½ m Höhe mehrere, nahezu horizontale Seitentriebe, die asymmetrisch-eiförmige, scheinwechselständige Blätter tragen. Im Frühsommer entspringen aus den Blattachseln die ca. 2 cm langen, glockenförmigen Blüten, die meistens von violettbrauner, selten auch blassgelber Farbe sind. Im Spätsommer entwickeln sich daraus die kugeligen, ca. 1 cm großen, dunkelvioletten Beeren, die charakteristisch in einem fünfzipfeligen Kelch sitzen und wie die ganze Pflanze giftig sind – die Tollkirschen eben

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Tollkirsche (Atropa belladonna): ganze Pflanze

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Tollkirsche (Atropa belladonna): oben blühender Zweig, unten Früchte


Stechapfel (Datura stramonium L.): Der Stechapfel ist eine typische Ruderalpflanze, der gerne dort wächst, wo der Boden vor kurzem umgegraben oder die ortsständige Pflanzendecke sonstwie zerstört wurde. Es handelt sich um eine einjährige Pflanze, deren Bestand sich jedes Jahr aus den Samen erneuert. Er bevorzugt warme, sonnige Standorte. Man findet ihn in der Nähe von Baustellen, an Wegrändern und neben Feldern. Ich sah ihn neben neu gepflanzten Alleebäumen oder an einer Böschung, die regelmäßig von Kaninchen „umgepflügt“ wird. Auch der Stechapfel hat einen Habitus, der in der mitteleuropäischen Flora ziemlich einzigartig ist. Die streng dichotome Verzweigung des Sprosses mit den in den Gabelungen stehenden röhrenförmigen Blüten macht ihn unverwechselbar. Diese sind tagsüber längs eingerollt, entfaltet sich abends und werden von Nachtfaltern bestäubt. Aus der Blüte entwickelt sich die typische, stachelige Frucht, etwa von der Größe einer Walnuss, die sich in vier Klappen öffnet und eine große Menge kleiner (2-4 mm), pechschwarzer, nierenförmiger Samenkörner enthält.

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Stechapfel (Datura stramonium): oben ganze Pflanze, unten Blüte und Frucht


Engelstrompete (Brugmansia ssp.): Diese Pflanzen stammen aus Südamerika und werden bei uns öfters als Zierpflanzen in Kübeln kultiviert, da sie mehrjährig, aber nicht winterhart sind. Es handelt sich um Sträucher, die leicht über mannshoch werden und ein dichtes Laub aus weichen, spitz-eiförmigen Blättern entwickeln, die wie bei allen Nachtschattengewächsen mehr oder weniger asymmetrisch gebaut sind. Die Brugmansia-Arten wurden früher unter dem Genus Datura als "Baumstechapfel" klassifiziert. Seit etwa 50 Jahren gibt man ihnen das Recht auf eine eigene Gattung. Im Unterschied zu den Datura-Arten haben alle Brugmansiae hängende Blüten. Diese Pflanzen werden schon so lange kultiviert und fast immer über Stecklinge vermehrt, dass wilde Ursprungsformen kaum noch existieren und zahlreiche Hybride entstanden sind, die eine genaue Artbestimmung oft schwer machen.

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"goldene Engelstrompete" Brugmansia aurea aus den kolumbianischen Anden, wo sie borrachero ("Trunkenmacher") heißt

Die Blätter der Pflanzen werden gesammelt und gründlich getrocknet, wobei sie ganz erheblich an Gewicht verlieren. Sie sind auffällig weich, durch Drüsenhaare etwas klebrig und besitzen einen eigenartigen, etwas unangenehm krautigen Geruch. Nach dem Trocknen werden die Drogen zunächst zerbröselt, dann in der Reibschale zerrieben und durch ein (Tee)sieb passiert, so dass man ein mittelfeines Blattpulver erhält:

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von oben nach unten: Belladonnablätter, Stramoniumblätter, Brugmansia-Blätter (bei letzterer auch eine Fruchtkapsel):

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Abwiegen des Blattpulvers


2. Extraktion der Alkaloide:

Neue und ältere Arzneibücher geben diverse Verfahren zur Extraktion der Solanaceenblätter an. Bei der heute gängigen Methode wird das Drogenmaterial mit verdünnter Schwefelsäure geschüttelt, alkalisch gemacht und dann mit Chloroform extrahiert. Dabei tritt oft eine unangenehme Emsulsionsbildung auf, wodurch die Abtrennung des organischen Lösungsmittels stark erschwert ist. Deswegen, und um auf Chloroform zu verzichten, wurde eine andere Methode gewählt, die etwas umständlicher ist, aber gut funktioniert:

Jeweils 2 g der getrockneten, gepulverten Blätter übwergießt man mit einem Gemisch aus 20 ml Ethanol 96 % und 0,5 ml Ammoniaklösung 25 % und lässt unter gelegentlichem Umschütteln 3 Stunden stehen. Die tiefgrün gefärbte Tinktur (ethanolischer Drogenauszug) wird dann in eine Abdampfschale filtriert und der Alkohol auf dem Wasserbad abgedampft. In der Schale bleibt ein schmieriger, dunkelgrüner Rückstand. Diesen übergießt man mit 2 ml 1 N Salzsäure und 18 ml Wasser und verreibt gut mit einem Pistill (Anmerkung: hier könnte man sicher auch den Rückstand in einem Milliliter Ether lösen, die verdünnte Salzsäure zusetzen und bis zum Verschwinden des Ethergeruches auf dem Wasserbad erwärmen). Es resultiert eine blass gelbbraune Flüssigkeit, die durch ein Filter von dem klebrigen Rückstand abgetrennt wird, der überwiegend in der Schale hängen bleibt (Pistill und Schale mit Brennspiritus oder Aceton reinigen). Den sauren wässrigen Extrakt macht man mit 2 ml Ammoniaklösung (25 %) alkalisch (mit Lackmuspapier prüfen!) und versetzt mit 10 ml gesättigter Kochsalzlösung. Anschließend wird im Scheidetrichter dreimal mit je 10 ml Diethylether ausgeschüttelt (für jeweils 1 Minute). Die Phasentrennung erfolgt sehr rasch und glatt. Die vereinigten Etherauszüge lässt man über Nacht über einem großen Spatel voll wasserfreiem Natriumsulfat stehen. Am nächsten Morgen ist das Salz kristallinisch verbacken und der Ether kann problemlos in einen kleinen Schliffkolben abgegossen werden. Aus diesem wird der Ether dann auf dem Wasserbad vollständig abdestilliert, wobei ein leichter, grünlicher Rückstand hinterbleibt. Man gibt einen Milliiter Methanol in den Kolben und schwenkt, bis sich der Rückstand vollständig gelöst hat. Die resultierende blassgrüne methanolische Lösung enthält die Alkaloide und wird für die folgenden Analysen verwendet.

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Extraktion der Drogen mit Ethanol und Ammoniak

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Abdampfen des Ethanols auf dem Wasserbad

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Filtrieren des mit verdünnter Salzsäure verriebenen Abdampfrückstandes

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Ausschütteln der alkalisierten Flüssigkeit mit Diethylether

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Trocknen der Etherextrakte über Natriumsulfat

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Abdestillieren des Ethers auf dem Wasserbad



3. Nachweis der Tropanalkaloide:

3.1. Vitali-Reaktion

Von jedem Extrakt gibt man 400 µl in eine Abdampfschale und lässt das Methanol verdunsten, wozu man die Schale zweckmässig in warmes Wasser stellt. Mit dem Rückstand wird die Vitali-Reaktion (siehe: Die Vitali-Reaktion zum Nachweis von Tropanalkaloiden) durchgeführt, indem man in jede Schale 10 Tropfen rauchende Salpetersäure gibt und auf dem Spiritusbrenner vorsichtig zur Trockene abraucht (Abzug!). Der Rückstand in der Schale wird mit 5 ml Aceton verrührt und 0,5 ml ethanolische Kalilauge zugegeben. Mit Tollkirschen- und Stechapfelblätterextrakt erhält man eine sehr intensive Färbung. Im Falle der Brugmansia-Blätter fällt die Reaktion deutlich schwächer, aber immerhin eindeutig positiv aus.

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Vitali-Reaktion mit Belladonna- (links) und Stramonium-Extrakt (rechts)

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Vitali-Reaktion mit Brugmansia-Extrakt


3.2 Dünnschichtchromatographie

Man zieht 1 cm vom unteren Rand der DC-Platten entfernt einen dünnen Bleistiftstrich und trägt mit der 10 µl-Pipette oder einer Kapillare je 10 µl des Tollkirschen- und des Stechapfelextraktes bandförmig auf einer Strecke von ca. 8 mm auf. Vom Brugmansia-Extrakt werden wegen des niedrigeren Alkaloidgehaltes 20 µl verwendet. Als Referenz wird eine Lösung von 10 mg Atropinsulfat und 4 mg Scopolaminhydrobromid in 5 ml Methanol verwendet und davon ebenfalls 10 µl aufgetragen.

Als Laufmittel dient eine Mischung aus 45 ml Aceton, 3,5 ml Wasser und 1,5 ml Ammoniaklösung (25%). Ein passendes Schraubdeckelglas als Chromatographiekammer wird zunächst mit einem Streifen Küchenkrepp ausgelegt, mit 20 ml des Laufmittels beschickt und 20 Minuten stehen gelassen, damit sich die Luft in der Kammer mit dem Fließmitteldampf sättigen kann (Chromatographie unter Kammersättigung). Dann stellt man die DC-Platten ein und wartet, bis das Laufmittel nahe dem oberen Ende der Platten angekommen ist, was bei meinen Versuchen jedes Mal ziemlich genau 18 Minuten gedauert hat.

Die Platten werden dann entnommen und zunächst 5 Minuten an der Luft trocknen gelassen. Zur Anfärbung der Alkaloide dient verdünntes Dragendorff-Reagenz: man löst 10 g Weinsäure in 50 ml Aqua dest. und gibt 5 ml Dragendorff Reagenz zu. Aus einer Kunststoffschale, die mit Fließpapier ausgelegt ist, improvisiert man eine Sprühkammer, was ausreicht, da das Sprühreagenz ungiftig ist. Die trockenen DC-Folien werden in die Kammer gestellt und möglichst gleichmäßig und nicht zu stark besprüht. Sofort werden auf der Folie orangegelbe Zonen sichtbar, die noch besser hervortreten, wenn nach etwa 1 Stunde die Folie getrocknet ist, und sich die diffuse gelbe Hintergrundfärbung aufgehellt hat.

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Materialien und Geräte für die Dünnschichtchromatographie

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Die Sprühkammer

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DC mit Belladonnaextrakt (linke Spur) und Stamoniumextrakt (rechte Spur), in der Mitte ist die Referenzlösung aufgetragen. Das linke Bild zeigt die Folie kurz nach dem Besprühen, das rechte die selbe Folie nach ein- bis zweistündigem Trocknen an der Luft.
Der untere Fleck, bei einem Rf-Wert von 0,3-0,4 entspricht dem Atropin, der obere bei 0,7-0,8 dem Scopolamin. Wie man sieht enthält die Belladonna praktisch nur Atropin (bzw. l-Hyoscyamin, das linksdrehende Stereoisomer), die Datura dagegen beide Alkaloide, wobei die Intensität der Flecken ähnlich der Referenzlösung ist und etwa einem Verhältnis Hyoscyamin : Scopolamin von 2:1 entspricht.

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DC des Brugmansia-Extraktes (rechts) neben der Referenzlösung (links)
Es findet sich kein Hyoscyamin/Atropin sondern praktisch ausschließlich Scopolamin. Zusätzlich erkennt man etwas oberhalb des Scopolamins eine ganz schwache andere Zone, von der nicht klar ist, welchem Alkaloid sie zuzuordnen wäre.


Entsorgung:

Die Abfälle werden über den Hausmüll bzw. das Abwasser entsorgt.


Erklärung:

Die Extraktion der Alkaloide aus dem Drogenmaterial folgt dem Prinzip des Trennungsganges nach Stas-Otto. Durch Anwendung lipohiler und hydrophiler Lösungsmittel sowie wechselweise Überführung der Alkaloide in die (lipohilen) Basen oder die (wasserlöslichen) Salze wird eine Trennung von den Begleitstoffen erreicht:

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Die wichtigsten und pharmakologisch interessantesten der in den untersuchten Drogen enthaltenen Alkaloide besitzen - daher der Name - einen Tropankern. In den Tropan-Alkaloiden ist der, sich vom Tropan ableitende, Amino-Alkohol α-Tropin mit Tropasäure verestert. α-Tropin bedeutet, dass die OH-Gruppe in Position 3 axial (senkrecht) zur Ringebene des Tropans steht, in 3-β-Stellung (horizontale OH-Gruppe) heißt das Molekül Pseudotropin. Die Tropasäure besitzt ein asymmetrisches Kohlenstoffatom und kommt daher in einer S- und R-Form vor. In den Nachtschattengewächsen wird ausschließlich S-Tropasäure gebildet, die - wie die sich von ihr ableitenden Alkaloide - linksdrehend ist. Das natürliche vorkommende S-Hyoscyamin racemisiert während des Extraktionsprozesses, wenn man seine Lösung stark alkalisch macht und eine Weile stehen lässt. Das medizinisch verwendete Atropin ist ein Racemat aus S- und R-Hyoscyamin und optisch inaktiv. Das Scopolamin, früher auch als Hyoscin bezeichnet, liegt natürlicherweise ebenfalls als S-Form vor und ist gegen Racemisierung viel beständiger (das Racemat heißt Atroscin). Im Scopolamin findet sich eine Epoxid-Gruppe an der Position 7-8 des Tropanringes.

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Obwohl Scopolamin und Atropin chemisch sehr ähnlich sind, unterscheiden sie sich in einer wesentlichen Eigenschaft: Sopolamin ist deutlich weniger polar. Seine Basizität ist etwa 100 mal niedriger als die von Atropin. Die Ursache liegt in der Stellung der Methylgruppe am Tropin-Stickstoff begründet. Die CH3-Gruppe steht im Scopolamin axial. Dadurch wird das freie Elektronenpaar am Sticksoff nach unten verdrängt. In dieser Position wird aber die Anlagerung von Protonen räumlich durch das benachbarten Epoxid-Sauerstoffatom behindert.

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Dieses kleine Detail hat weitreichende Folgen. In der DC ist die geringere Polarität des Scopolamins die Ursache seines höheren Rf-Wertes. Es wird vom Lösungsmittel schneller mitgenommen. In Bezug auf die physiologische Wirkung bedeutet eine geringere Polarität, dass die Substanz viel stärker ins zentrale Nervensystem (Gehirn) eindringt, als das Atropin. Seine Lipophilie erlaubt es dem Scopolamin, die Blut-Hirn-Schranke rascher zu überwinden. Obwohl die beiden Alkaloide an den gleichen Rezeptoren im Nervensystem angreifen - sie blockieren die muskarinergen Rezeptoren des Transmitters Acetylcholin – ist die Wirkung verschieden. Atropin wirkt in kleinen Dosen vorwiegend an den sogenannten peripheren Nerven, außerhalb des Gehirns. Es beschleunigt den Pulsschlag, erweitert die Pupillen, bewirkt eine Herabsetzung der Schweiß- und Speichelsekretion und wirkt erschlaffend auf die nicht willkürlich steuerbare (glatte) Muskulatur - z.B. an Darm und Gebärmutter. Erst höhere Dosen haben zentralnervöse Effekte. Das Scopolamin dagegen zeigt neben all diesen Effekten schon in kleinen Mengen eine ausgeprägte ZNS-Wirkung. Es macht müde, stört die Speicherung von Gedächtnisinhalten und bewirkt in moderaten Dosen lebhafte Halluzinationen.

Das Gegenteil dieses Effektes wird in dem halbsynthetischen Scopolaminderivat N-Butylscopolaminiumbromid erreicht. In diesem Arzneimittel (das als Buscopan® rezeptfrei käuflich ist) ist durch die kovalente Bindung eines n-Butylrestes an den Tropinstickstoff letzterer permanent positiv geladen:

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In Folge der positiven Ladung ist die Substanz stark polar und tritt praktisch gar nicht ins Nervensysten über. Buscopan® hat fast ausschließlich krampflösende Eigenschaften und wird bei Koliken im Bauchbereich angewandt.

Die hohe ZNS-Gängigkeit des Scopolamins ist die Ursache für den Gebrauch der es enthaltenden Pflanzen als traditionelle Rauschmittel, vor allem im indianischen Südamerika. In Europa waren Nachtschattengewächse als Rauschmittel nie groß etabliert – was nach den hier vorgestellten Analysen verständlich ist. Die mitteleuropäischen Arten enthalten zu viel Atropin (die Tollkirsche > 95 % des Gesamtgehaltes) und um einen Rausch zu erzeugen sind erhebliche Vergiftungserscheinungen zu riskieren. Der Stechapfel ist keine originär europäische Pflanze. Er wurde erst im 16. Jahrhundert bei uns eingeschleppt, wobei die Historiker diskutieren, ob er ursprünglich aus Mittelamerika oder aus Asien (der Region um das kaspische Meer) stammt. In der letzten Zeit scheint die Mehrzahl der Forscher der Auffassung, dass Mexiko die Heimat des Stechapfels ist. Die einzige überwiegend Scopolamin-haltige Pflanze in Europa ist das Bilsenkraut (Hyoscyamus-Arten), das deswegen schon im Altertum eine Rolle spielt. Aber der Gesamtalkaloidgehalt zumindest der in Mitteleuropa heimischen Art Hyoscyamus niger liegt fast um das zehnfache unter dem der Tollkirsche. Ob die "Hexensalben" des Mittelalters tatsächlich, wie mehrere Pharmakologen des 20. Jahrhunderts vertreten, in der Lage waren Halluzinationen zu erzeugen, scheint im Lichte neuerer Forschungen wieder fraglich. Die wenigen (immer aus zweiter Hand, das heißt von den Gelehrten oder Hexenverfolgern!) überlieferten Rezepte enthalten eine Unmenge magischer, aber physiologsich komplett wirkungsloser Zutaten wie gemahlene Hostien, allerlei symbolträchtige Pflanzen sowie (angeblich) Kinderfett - jedoch nur wenige alkaloidhaltige Bestandteile. Genausogut ist es aber möglich, dass es wirksame und unwirksame Rezepturen gab bzw. einmal aufgefundene wirksame Rezepte durch Unkenntnis der Zusammenhänge falsch weitergegeben wurden.

In der Kulturgeschichte Europas haben die Nachtschattengewächse eher eine Spur als Gifte, denn als Genussmittel hinterlassen (man denke nur an Hamlet: "… mit Saft verfluchten Bilsenkrauts im Fläschchen …"). Aber auch in Südamerika sind sich die Schamanen der Gefährlichkeit der von ihnen kultivierten und rituell angewandten Brugmansia bewusst. In fast allen Mythologien sind die den Engelstrompeten zugeschriebenen "Geister" eher dämonischer, jedenfalls nicht primär freundlicher Natur. In Kolumbien wird Scopolamin heute zu kriminellen Machenschaften verwendet. In Kombination mit bestimmten Schlafmitteln (Benzodiazepinen) verwenden es Diebe um ihre Opfer zu betäuben und auszurauben. Dabei bewirkt diese als burundanga bekannte Mischung eine komplette Gedächtnislücke. Fast jeder Kolumbianer kennt eine Geschichte von jemandem der unter dem Einfluß des Rauschmittels wie in Trance Dinge tat (mit den Gaunern auf die Bank gehen und alles Geld vom Konto abheben oder zu Hause den Familienschmuck aushändigen), die er bei vollem Bewusstsein nie getan hätte, und an die er sich später nicht mehr erinnert.

Zur Chemie der Vitali-Reaktion, einer auf Tropanalkaloide recht spezifischen Farbreaktion, siehe diesen Artikel.


Literatur:

Europäisches Arzneibuch, 7. Ausgabe 2011
Frerichs G, Arends G, Zörnig H: Hagers Handbuch der pharmazeutischen Praxis, Springer-Verlag
Berlin-Göttingen-Heidelberg 1949
Rätsch Chr. : Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen – Botanik Ethnopharmakologie und
Anwendung; AT-Verlag 8. Auflage 2007; ISBN 978-3-03800-352-6
Stahl E, Schild W: Pharmazeutische Biologie (Bd.4.) Drogenanalyse II: Inhaltsstoffe und Isolierungen;
1981Gustav Fischer Verlag; ISBN 3-437-20209-X
Steinegger E, Hänsel R: Lehrbuch der Pharmakognosie und Phytopharmazie, 4. Auflage 1988;
Springer Verlag; ISBN 3-540-17830-9
Völger G und von Welck K (Hrsg.): Rausch und Realität - Drogen im Kulturvergleich;
Rowohlt Taschenbuch-Verlag 1982, ISBN 3-4999-34006-2
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NI2
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Beitrag von NI2 »

Wie immer interessant,... würde ich auch ganz gern in die Artikelschmiede nehmen, da sich ein netter Analytikversuch drauß machen lässt.... Aber dafür ist immer noch die Form ein wenig problematisch,... (Formvorgaben von Illumina und VC unterscheiden sich halt doch ein wenig ;))

Aber das ganze Drumherum macht deine Artikel immer sehr lehrreich, aber leider auch schwer zu bearbeiten, da viel Information drinne steckt und man als Mod die eigentlich passende Form aufteilen muss... (Allgemeines unter die Überschrift und die einzelnen bereiche ein wenig aufgliedern und Bilder zum Schluss, auch wenn sie bei Texten dieser länge im Text natürlich mehr Sinn haben.)

Zum Ende noch: Vielen Dank :D
IOC

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lemmi
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Beitrag von lemmi »

Da müssten wir uns mal kurzschließen, wie man das anpassen könnte. Ich weiß nicht recht, wie ich die ganzen Querverweise (Botanik, Geschichte, Phramakologie...) in einer Artikelvorlage unterbringen soll. Und auf die kommt es mir schon auch an. Wie wäre es, eine Rubrik "Chemie interdisziplinär" aufzumachen? :P

Ich habe aber noch was anderes zu diesem Thema in Arbeit, da werde ich mich an die Artikel-Formvorgaben halten :angel:
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NI2
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Beitrag von NI2 »

lemmi hat geschrieben:Ich weiß nicht recht, wie ich die ganzen Querverweise (Botanik, Geschichte, Phramakologie...) in einer Artikelvorlage unterbringen soll.
Genau das ist beim Durcharbeiten auch immer mein Problem :D Deswegen hängen deine Artikel auch noch in der Schmiede, weil es zu schade wäre Sachen rauszukürzen nur, dass die allgemein Form passt, bin dran :D

Hatte gerade noch mal einen Artikel von Boxah an Wickel, aber hab die Änderungen dann doch nicht gespeichert und werde gleich noch ein wenig etwas zur Form schreiben.
IOC

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Final Destillation
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Beitrag von Final Destillation »

Cooooooooooooooooooooooooooooool!


MfG TC
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Sven1105
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Beitrag von Sven1105 »

Das Thema ist zwar schon etwas älter aber trotzdem:

Ich habe mir den Versuch heute mal genau durchgelesen und bin begeistert.
Wirklich super gemacht und sehr anschaulich beschrieben! Das trifft genau meinen Geschmack. :thumbsup:
Mit freundlichen Grüßen

Sven
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NI2
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Beitrag von NI2 »

Ich finde die Totalsynthese interessanter :D Aber gebe dir recht: der Versuch ist schön.
IOC

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NI2
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Beitrag von NI2 »

Überarbeitet und verschoben.

Aber eine Frage hätte ich noch: Ich habe gelesen, dass sich durch Quaternisierung von Alkaloidstickstoffen oft eine Wirkungssteigerung erzielen lässt (Cytisin, Tubocurarin, Strychnin (?)). Rein unabhängig von der Tatsache, dass die Blut-Hirnschranke schwerer oder kaum überwunden werden kann: trifft das auch bei den hier bearbeiteten Alkaloiden zu?
IOC

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Phil
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Beitrag von Phil »

:thumbsup: Supper Artikel, sehr lehrreich.
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lemmi
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Beitrag von lemmi »

@NI2: das habe ich jetzt noch nicht gehört. Im vorliegenden Fall trifft das sicher nicht zu. Die therapeutische Einzeldosis des N-Butylscopolaminiums (10-20 mg) liegt gut 1 Zehnerpotenz höher als die des Atropins (0,5-2 mg)
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NI2
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Beitrag von NI2 »

Ja, bei oraler Applikation (oder?), was würde passieren wenn man es i.v. verabreicht? Ist das gleiche wie bei den Curarealkaloiden: werden sehr schwer über den Magendarmtrakt aufgenommen, aber kommen sie ins Blut sind sie sehr potent.

EDIT:
Goodman, Gilman: The pharmacological Basis of Therapeutics, 7th Edt. 1985, p224 hat geschrieben:The functional relationiship of curare to ACh focuses attention on the role of quaternary ammonium groups. Many well-known drugs (atropine, quinine, strychnine etc.) show a marked increase in neuromuscular blocking potency when their nitrogen atom is quaternized
Okay, ging um die Muskelblocker :D
IOC

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